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Unterwegs zu neuen, wunderbaren Menschen

Von Elisabeth Gänger

„Ihr Kind wird niemals sprechen.“ – Wenn Sie so einen Satz kurz nach der Diagnose von einer Akustikermeisterin hören, ist Ihr Tag gelaufen. Der Besuch bei der vermeintlichen Expertin war damals der erste Therapieschritt, den wir mit unserer 18 Monate alten Tochter unternahmen. Der Schock über das Urteil „gehörlos“ saß noch so tief, dass ich mich am liebsten für die nächsten Jahre hinter der Heizung verkrochen und meinen Schmerz beweint hätte. Doch natürlich mussten wir jetzt etwas tun. Wobei uns zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht klar war, was das sein könnte. Der HNO-Arzt, der die BERA durchgeführt hatte, empfahl uns eine Akustikerin vor Ort: „Gehen Sie da mal hin. Die ist eigentlich ganz gut.“ Nun ja, zumindest war sie resolut.

Frühförderung 1992 in Hamburg

Für Eltern, die durch ihr Kind zum ersten Mal mit dem Thema Hörschädigung in Berührung kamen, waren diese oder ähnliche Erfahrungen vor knapp dreißig Jahren nicht ungewöhnlich. Es gab noch kein Hörscreening nach der Geburt, die CI-Technik steckte in den Kinderschuhen und bis wir erfuhren, dass Hörgeräteanpassung bei Kleinkindern etwas komplett anderes ist als bei Erwachsenen, vergingen weitere wertvolle Monate.

Zum Glück trafen wir auch auf Menschen, die uns dank ihrer Professionalität und ihrer wohlwollenden Art unglaublich ermutigt und mobilisiert haben: die großartigen Therapeutinnen der Hamburger Frühförderung, das hervorragende Akustikerteam aus Essen. Über sie lernten wir wiederum Eltern von anderen hörgeschädigten Kleinkindern kennen. Manche machten sich wie wir gerade auf den Weg, andere wussten mit ihrer veränderten Lebenssituation bereits bestens umzugehen und wir erkannten: Unser Leben wird anders sein, als wir es uns vorgestellt haben, aber es kann trotzdem wunderbar und sogar sehr spaßig werden.

Die Diagnose Schwerbehinderung – egal welcher Art – steckt kein Elternpaar einfach so weg. Dank der technischen Entwicklung stellen sich erste Therapieerfolge heute sehr viel früher ein, was bedeutet, dass Eltern auch früher Hoffnungen aufbauen und neue Perspektiven entwickeln können. Dennoch, der Schmerz über den Verlust des ursprünglich Geplanten ist da und muss von jedem Elternteil zunächst verarbeitet werden. In dieser Zeit sind die meisten von uns verletzlich und brauchen Menschen, die empathisch sind und ihnen Mut machen – keine Schwarzmaler. Ich weiß noch, was für einen Stich mir damals jede Aussage über die Sprachentwicklung gleichaltriger hörender Kinder versetzt hat. Selbst meine Mutter vergaß oft, wo wir uns als Familie befanden, und schwärmte mir beispielsweise vom Sohn ihrer damaligen Nachbarn vor: „Du glaubst ja nicht, wie der schon spricht!“

Kurz nach der Diagnose hatte mir eine befreundete Therapeutin gesagt, dass ich jetzt viele Aussagen hören würde, die mich verletzen würden, die jedoch gar nicht so gemeint seien. – Stimmt. Der Großteil der Gesellschaft ist hörend und hat – wie bis dahin auch wir – keine Ahnung von den Auswirkungen einer kindlichen Hörschädigung auf den Alltag. Manche Leute, denen ich erklärte, weshalb ich so deutlich mit Norma kommunizierte, wurden daraufhin nachdenklich und sagten nach einer Weile: „Ach, dann ist das ja auch gar nicht so leicht mit dem Sprechen.“ – Ich hätte diesen Menschen um den Hals fallen können, denn sie hatten genau erfasst, worum es ging. Andere, darunter leider auch spätere Lehrer, machten sich nicht die Mühe, eine Verbindung zwischen Hör- und Sprechvermögen herzustellen. „Aber das fällt doch gar nicht auf, dass die nicht gut hört“, ist eine Aussage, die sicher schon viele Eltern zur Verzweiflung getrieben hat, zumindest in Zeiten, als Inklusion noch ein Fremdwort war.

Es ist einzig und allein eine Frage der Bereitschaft, ob Außenstehende mit unseren hörgeschädigten Kindern kommunizieren wollen. Manche mögen Berührungsängste haben, aber jeder, der dazu bereit ist, kann es. Genauso wie jemand, der die Kommunikation bewusst stören will, dies ebenfalls tun kann. In der Sekundarstufe eins hatte unsere Tochter eine „beste“ Freundin, die förmlich süchtig danach war, sie rund um die Uhr wie eine Schwerstbehinderte zu betreuen und mit Informationen zu versorgen. Leider kommunizierte dieses Mädchen weder Termine für Klassenarbeiten noch mündlich verordnete Hausaufgaben. Stand Norma dann mit leeren Händen da, sagte das Mädchen immer sehr laut und vor allem an den Lehrer gewandt: „Aber das habe ich dir doch gesagt! Hast du das denn nicht mitbekommen?“ 

Bei Kindern und Jugendlichen sind es oft Ängste oder eigene Nöte, die manipulatives oder auch unsoziales Verhalten hervorrufen. Dabei sind gerade junge Hörgeschädigte auf Aufrichtigkeit angewiesen und darauf, dass Informationen klar und ehrlich vermittelt werden. Es dauert lange, bis unsere Kinder selbst abwägen können, wann jemand versucht, sie in die Irre zu führen, und noch länger, bis sie das Standing haben, sich dagegen zu wehren.

Ich möchte daher vor allem an junge Eltern appellieren, wachsam gegenüber sozialen Falschspielern zu sein. Und schützen Sie sich auch gegenüber Menschen, die sich über Ihren ach, so bedauernswerten Status mit einem „behinderten Kind“ erheben wollen. Unsere Gesellschaft ist dermaßen geprägt von Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken, dass Empathie und Sensibilität für viele heute Fremdwörter sind.

Genießen es, einmal im Jahr gemeinsam zu verreisen:
Elisabeth und Norma Gänger.

Da geht es ständig ums Bessersein, also warum nicht mal eine mitleidige Stichelei gegenüber denen loslassen, deren Kind in seiner Entwicklung etwas länger braucht? Moralisches Bewusstsein? – Fehlanzeige!

Es gibt dazu eine Geschichte, die mir damals viel Kraft gegeben hat und die früheren Elterngenerationen bekannt sein dürfte. In der Geschichte „Willkommen in Holland“, die hier am Ende des Textes steht, beschreibt Emily Perl Kingsley, wie es sich für sie anfühlte, Mutter eines Jungen mit Down-Syndrom zu werden.

Genau wie von dieser Autorin beschrieben, haben auch wir durch unsere Tochter eine ganz neue und wunderbare Gruppe von Menschen kennengelernt. Und wir haben Erfahrungen gemacht, die ich niemals missen möchte. Die wichtigste darunter ist wohl, eine Antenne für Menschen zu entwickeln, die einem guttun.

Ich habe auch gelernt, dass eine Aussage wie „Ihr Kind wird niemals sprechen“ schon für damalige Verhältnisse ein Schlag ins Gesicht war. Auf heutigen Online-Portalen würde man dem Geschäft der Akustikerin wohl allenfalls das Prädikat „unzumutbar“ verleihen.

September 2020
Elisabeth Gänger, Bremen

Erstmals erschienen in Schnecke Nr. 109

Willkommen in Holland

Wenn Du ein Baby erwartest, dann ist das so ähnlich, wie wenn du eine Traumreise nach Italien planst. Du kaufst einen Haufen Reiseführer und machst wundervolle Pläne. Das Kolosseum. Michelangelos David. Die Gondeln in Venedig. Vielleicht lernst du auch ein paar Redewendungen auf Italienisch. Es ist alles sehr aufregend.

Nach Monaten sehnsüchtiger Erwartung ist der Tag schließlich da. Du packst deine Koffer und los geht’s. Ein paar Stunden später landet das Flugzeug. Die Stewardess kommt herein und sagt: „Willkommen in Holland.“

„Holland?“, sagst du. „Was meinen Sie mit Holland? Ich habe Italien gebucht. Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, einmal nach Italien zu reisen.“

Doch es hat eine Änderung im Flugplan gegeben. Du bist in Holland gelandet, und dort musst du jetzt bleiben.

Das Wichtigste ist, dass man dich nicht an einen schrecklichen, ekelerregenden, schmutzigen Ort voller Hunger und Krankheiten gebracht hat. Es ist nur ein anderer Ort.

Also musst du losziehen und neue Reiseführer kaufen. Und du musst eine völlig andere Sprache lernen. Du wirst eine ganz neue Gruppe von Menschen kennenlernen, denen du sonst nie begegnet wärst.

Es ist nur ein anderer Ort. Alles ist langsamer als in Italien und auch weniger leuchtend. Doch nachdem du eine Weile hier warst und wieder zu Atem gekommen bist, siehst du dich um und stellst fest, dass es in Holland Windmühlen gibt. Hier gibt es auch Tulpen. Und Holland hat sogar Rembrandts!

Leider kommen alle, die du kennst, entweder gerade aus Italien zurück oder bereiten sich auf eine Reise dorthin vor. Und sie alle prahlen mit der wunderschönen Zeit, die sie dort hatten. Vielleicht wirst du für den Rest deines Lebens sagen: „Ja, dahin hatte ich auch reisen wollen. Das hatte ich so geplant.“

Und der Schmerz darüber wird niemals ganz vergehen, denn der Verlust dieses Traumes ist ein sehr bedeutsamer Verlust.

Wenn du jedoch den Rest deines Lebens damit verbringst, über die Tatsache zu trauern, dass du nicht nach Italien gekommen bist, wirst du niemals fähig sein, die ganz besonderen, wunderschönen Dinge in Holland zu genießen.

Emily Perl Kingsley, 1987