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Warum ich taub werden musste um zu verstehen

„Ich war gut hörend, zunächst leicht, mit den Jahren hochgradig schwerhörig und bin mittlerweile ertaubt. Meine Aussprache ist so gut, dass ich die meisten Leute (und auch lange Zeit mich selbst) glauben ließ, ich wäre hörend. Ich interpretiere und kombiniere - manchmal auch falsch, aber auch oftmals so nah, dass ich mehr verstehe, als Guthörende hören.“ - Oliver Hupka, Juli 2012

Mein ganzes Leben lang wusste ich, dass dieser Tag früher oder später kommen würde. Bei einer beidseitigen sensorineuralen Innenohrschwerhörigkeit mit schleichendem progredienten Verlauf, bedarf es keiner Propheten, um dies zu wissen. Vielleicht nahm ich die Nachricht auch deshalb relativ gelassen auf. Vielleicht aber auch, weil ich mich selbst gar nicht taub wahrnahm und es sich längst nicht so endgültig anfühlte, wie ich es immer erwartet hatte.

Auf Anraten meines HNO Arztes trat ich eine 5-wöchige stationäre Reha in der Kaiserberg-Klinik Bad Nauheim an. Ich musste erkennen, wie schlecht ich tatsächlich höre und wie sehr ich doch von meiner Empathie, meiner Fähigkeit zu kombinieren und dem Ablesen von Mundbild, Gestik und Mimik abhängig bin. Viel schlimmer jedoch, wie viel Anstrengung mich dies mittlerweile kostete und wie müde und erschöpft ich dadurch täglich war. Im Antrag auf Kostenübernahme der CI Versorgung schrieb ich später in einer persönlichen Stellungnahme: „die enormen Anstrengungen führen mittlerweile auch zu einer emotionalen Ertaubung, ich reagiere gereizt auf meine engsten Mitmenschen und mir fehlt die Kraft und Geduld nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe“.

Ich lernte in der Reha viele CI Träger kennen, Menschen die mich nachhaltig geprägt und meine Ansichten über das CI komplett verändert haben. Ärzte, Therapeuten, Psychologen und -nicht zuletzt- andere Patienten. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich entschieden, ich möchte diese Chance ergreifen. Ich war mir der Risiken bewusst, aber in Anbetracht der Potentiale, war ich bereit sie einzugehen. Seit dem ich die Entscheidung getroffen hatte bewegte mich nur noch eine Frage:

„Mit welchem Ohr beginnen wir?“

Dass ich eine beidseitige Versorgung anstrebe, war von Beginn an klar. Mein Leben lang trug ich auf beiden Ohren Hörgeräte, war „Stereo-“ und Richtungshören gewohnt. Gerade als ich schon eine Münze werfen wollte (die Hörkurven meiner Ohren waren nahezu identisch), lernte ich Frau Dr. Silke Helbig (KGU Frankfurt a. Main) kennen, die mich mit folgendem Satz aus der Bahn warf: „Wieso machen wir nicht beide Seiten in einer OP?“

Ja, die Vorteile waren allzu offensichtlich, nur eine OP, ein Krankenhausaufenthalt, eine Anschluss-Rehabilitation. Es war zu erwarten, dass alles viel schneller gehen würde, ich weniger Ausfallzeiten im beruflichen Alltag haben würde und körperlich wie seelisch, schneller wieder "fit" bin. Je mehr ich mich mit diesem Gedanken auseinandersetze, desto mehr Vorteile entdeckte ich. Ich würde zeitgleich mit demselben "System" versorgt zu werden. Ich erhoffte mir weniger Verwaltungsaufwand, Anträge und Behördengänge, vor allem ein Gedanke trug aber letztendlich zu der Entscheidung für die zeitgleiche bilaterale Versorgung maßgeblich bei:

Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als mit den Cochlea Implantaten zu Recht zu kommen.  Kein Hörgerät mehr, an das ich mich hätte klammern können - ich war zum Trainieren gezwungen. Jedoch kannte ich niemanden, der diesen Schritt gewagt hat, den ich hätte fragen können. Dr. Zeh, Chefarzt der Abteilung HTS in der Kaiserberg-Klinik und selbst beidseitig implantiert sagte zu mir: "ganz ehrlich, ich hätte Angst, das ist ein sehr großer Schritt. Aber wenn Sie mutig sind, dann machen Sie es". Leider besteht oftmals ein schmaler Grat zwischen Mut und Idiotie. Mir war bewusst, dass ich in der Zeit nach der OP völlig taub sein würde, aber die wenigen Wochen schreckten mich nicht ab. „Enjoy the Silence“, sagte ich mir und das war im Nachhinein der einzige Fehler, den ich begannen habe...

Am 27. August 2012 erwachte ich nach 6 Stunden OP in meinem Zimmer und der erste Gedanke war: „Mist – sie haben mich gar nicht operiert“. Ich hatte keinerlei Schmerzen, keinen Schwindel, keine Beschwerden. Erst als ich meinen schicken Turban ertastete und vor dem Spiegel betrachtete wusste ich, das war es tatsächlich schon. Die OP verlief optimal, die Elektrodenlage war ideal und die Wundheilung ging rasend schnell. Es war ungewohnt, in absoluter Stille das Treiben und Leben in einem Klinikum zu beobachten, aber wirklich jeder, der mich in den 5 Tagen Aufenthalt besuchte, sagte mir, wie entspannt und gelassen ich wirkte. Es war nicht gespielt, ich musste nicht tapfer sein, ich war angstlos und erleichtert, dass die Schokolade noch nach Schokolade schmeckte und mein Lachen nach wie vor vorhanden war.

Gefangen in der Taucherglocke

12 Tage nach der OP und wieder zu Hause, fern von der schützenden Klinik-Atmosphäre war mein Lachen jedoch verschwunden. Um einer Hirnhaut- und sonstigen Entzündungen vorzubeugen, wurden insgesamt 10 Tage Antibiotika verabreicht. Die Nebenwirkungen (Müdigkeit, Erschöpfung und Magenprobleme) machten sich deutlich bemerkbar. So schmerzfrei und unkompliziert die OP rein körperlich verlaufen war, so sehr belastete sie mich plötzlich seelisch und emotional. Ich musste mir eingestehen, dass ich trotz aller "Vorbereitung" nicht wusste, wie sehr ich doch damit kämpfen würde, rein gar nichts mehr zu hören. Ich fühlte mich, als triebe ich orientierungslos durch das Weltall, anstatt aber die Sterne, die Planeten und die Stille genießen zu können, musste ich mich übergeben, weil mein Körper mit dieser Orientierungslosigkeit nicht zurecht kam. Ich würde es nicht als Schwindel beschreiben, viel mehr als eine Art Seekrankheit, gefangen in einer Taucherglocke, gefangen in der absoluten Lautlosigkeit. Ich fühlte mich –trotz der Liebe der Menschen die mich umgab- sehr einsam und allein. Ich bereute den Schritt nicht mich zeitgleich bilateral versorgen zu lassen, aber ich musste erkennen: Ich hatte es unterschätzt.
Und dann, ging es rasend schnell

Gerade als ich mich mit dem Taubsein arrangiert hatte, wieder Sport treiben konnte und die quälenden Wochen hinter mir lagen, stand Anfang Oktober die Erstanpassung bevor. Ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, wie groß meine Erwartungshaltung war. Auch wenn ich mich selbst und vor allem die Ärzte und Therapeuten immer wieder gebremst hatten, um mich vor einer Ernüchterung zu bewahren, mein Ehrgeiz war zu groß, als dass ich etwas anderes erwarten konnte und wollte, als sehr gut zu hören.

Am ersten Tag der Aktivierung und dem Anlegen der Audioprozessoren erreichte ich beim Sprachaudiogramm im Freifeld bei den Zahlen 90% und bei den Wörtern 45% Verständlichkeit. Am zweiten Tag lauteten die Ergebnisse Zahlen 100% und Einsilber 80%. Wohlgemerkt mit beiden CI. Seitengetrennt waren die Ergebnisse deutlich schlechter. Mein linkes Ohr hinkte enorm hinterher und ich kam gerade mal auf Werte um die 20%. Schnell zeigte sich: Meine Entscheidung war die richtige. Ich frage mich auch heute noch wie ernüchtert ich wohl gewesen wäre, wenn ich bspw. mit der linken Seite begonnen hätte.

Zwei Wochen später konnte ich tatsächlich behaupten wieder zurück in der Welt der Hörenden zu sein, denn die Erfolge stellten sich auch im Alltag, fern jeder Laborbedingungen ein. Die Kommunikation funktionierte auch bei Störgeräuschen schon sehr gut. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal in der Lage gewesen war, während des Autofahrens so unkompliziert und ganz ohne Mundbild eine Unterhaltung zu führen. Ich habe meine Mama mit einem Anruf überrascht und mich selbst damit, dass ich alles verstehen konnte. Ich begann wieder Musik zu hören, Klänge und Melodien formten sich. Meine Stimme wurde tiefer und klang schon fast wieder wie gewohnt. Ich hatte mir einen MP3 Player gekauft, genoss Hörbücher und übte fleißig. Natürlich lag noch ein langer Weg vor mir, aber ich freute mich darauf ihn zu gehen.


Vier Wochen nach der Erstanpassung wurde die Empfindlichkeit der Mikrofone von 80% auf 100% und insgesamt die Lautstärke erhöht. 100% Verständlichkeit bei Zahlen und 90% Verständlichkeit bei den Einsilbern, lautete das Ergebnis und ich wollte mehr. Ich verliebte mich in viele verloren geglaubte Geräusche wieder neu, das Geräusch von Regen, der auf die Dächer prasselt, das Herbstlaub, wenn die Blätter rascheln, das Prickeln und Zischen von Mineralwasser.

Im Januar 2013 trat ich meine zweite Reha in Bad Nauheim an und stellte mir nur noch eine Frage: "Kann ich meine ohnehin schon sehr guten Hörerfolge überhaupt noch verbessern?". Durch gezieltes Hörtraining und durch "Feintuning" bei den CI-Einstellungen lässt sich diese Frage eindeutig beantworten: "Ja, die Reha hat mich nochmal ein gutes Stück weiter gebracht". Die  erreichten Spitzenwerte machten mich unheimlich stolz. Das Erste, was ich jedoch nach den letzten Tests tat, war, mich in mein Zimmer zurück zu ziehen, da mich Tränen überkamen, vor Glück, vor Erleichterung, aber auch mit einem merkwürdigen Gefühl voller Trauer und Schmerz. Meine Schwerhörigkeit hat mich mein Leben lang begleitet und ich kann es auch heute noch nicht wirklich greifen. Eine Lebensaufgabe, die mich so lange bewegt hat, war erfolgreich zu Ende gegangen.

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