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Mit einem kleinen Chip wieder ganz Ohr - Aachener Zeitung vom 05.10.2004

Mit einem kleinen Chip wieder ganz Ohr

Aachen. Meike ist acht, postlingual ertaubt und eine unverfrorene Schummlerin. Eine Sechs benötigt die Kleine beim Brettspiel, doch gewürfelt hat sie eine Vier.
 
Nun nimmt das Mädchen den Spielstein in die Hand und zählt: «Eins, zwei, drei, vier, fünf...» - «Halt», ruft Mitspieler Uwe Bönstrup, «du hast eine Vier geworfen, keine Sechs». Da lacht die Kleine. Ertappt. «Ach ja», sagt sie schelmisch, «stimmt ja auch.» 
 
Uwe Bönstrup arbeitet als Logopäde am CIR in Laurensberg, dem «Cochlea Implantat Rehabilitationszentrum Rheinland». Cochlea, das ist der Fachausdruck für die Innenohrschnecke, und ein Cochlea Implantat, das ist ein kleiner Computerchip, kaum größer als ein Zwei-Euro-Stück. 
 
Das Cochlea Implantat wird eingesetzt bei Menschen, die aufgrund eines defekten Innenohrs taub oder fast taub sind. Das erste Cochlea Implantat wurde vor gut 20 Jahren eingepflanzt.

Für Kinder ein Segen

Für schwer gehörgeschädigte Erwachsene, vor allem aber für Kinder kann das Cochlea Implantat zum Segen werden. Es sind Kinder wie Tobias Heeb. Der Neunjährige verlor als kleines Kind sein Hörvermögen. 1999 wurde ihm das Implantat eingesetzt, ohne das er heute nicht hören und sprechen könnte. 
 
Tobias' Mutter erzählt, dass sie manchmal verzweifle, wenn der Junge einen Satz ohne Verb spricht. Aber was heißt das schon? Wo es Nicht-Medizinern wie ein Wunder vorkommt, dass Tobias sich überhaupt lautsprachlich verständigen kann.
 
Zu Viert sitzen sie um das Brettspiel: Meike, Tobias, Uwe Bönstrup und dessen Kollegin Anja Knauf. Bönstrup und Knauf fördern die Schummelei nach Kräften. Wer schummelt, ist mit dem Herzen dabei, und es herrscht Leben rund um den Tisch. 
 
Das ist ganz wichtig zu Beginn eines Therapietages, sagen Bönstrup und Knauf. «Ich brau eine Drei», sagt Tobias. Es ist nicht ganz leicht, ihn zu verstehen, aber wenn man sich anstrengt, dann geht es. 
 
Grob gesagt, kann man Menschen mit geschädigtem Innenohr in zwei Gruppen einordnen. Die eine Gruppe, das sind die, die taub auf die Welt kommen oder - wie Tobias - das Hörvermögen schon in den ersten Lebensjahren verlieren.
 
Wird die Taubheit früh genug erkannt, so lässt sie sich in aller Regel mit dem Cochlea Implantat beheben. 
 
Die Therapie freilich ist äußerst aufwändig, schließlich wissen die kleinen Patienten gar nicht, was «Hören» überhaupt ist. Tobias musste also, sozusagen, erst das «Hören» erlernen, bevor er daran gehen könnte, bestimmte Wortlaute bestimmten Dingen zuzuordnen.
 
Mittlerweile kann Tobias zuhören und reden, und das mit den Verben, das wird er irgendwann auch hinkriegen. Ist ein Kind schon sieben oder acht Jahre alt, bevor die richtige Diagnose gestellt wird, so ist die Behinderung in der Regel besiegelt. 
 
«Das Hörzentrum im Gehirn kann sich nur in den ersten fünf, sechs Lebensjahren ausbilden», erläutert Dr. Wolfgang H. Döring, Medizinphysiker an der HNO-Klinik. 
 
Meike Hüsges zählt zur Gruppe jener Patienten, die Hören und Sprechen konnten, dann aber das Hörvermögen einbüßten. Wer schon einmal Hören konnte, der hat beste Chancen, es nach Einpflanzung des Cochlea Implantats auch rasch wieder zu lernen.
 
Es war im Oktober vergangenen Jahres, als Meike infolge einer Hirnhautentzündung die Hörfähigkeit verlor. «Wir sind zunächst mal in ein Loch gefallen», erzählt Martina Hüsges. Im November wurde Meike am Klinikum operiert, dann dauerte es einige Wochen, bevor die Reha-Maßnahme am CIR beginnen konnte.
 
Anfangs zweimal, später einmal die Woche ist Martina Hüsges mit ihrer Tochter von Düsseldorf nach Laurensberg gekommen, heute reicht ein Besuch pro Monat. Zwei Jahre dauert die Reha, dann folgen halbjährliche Routineuntersuchungen. 
 
Die Reha-Maßnahmen dienen dazu, den kleinen Sprachcomputer mit dem Hörnerv und dem Hörzentrum im Gehirn abzustimmen. Die Experten am CIR, das sind Audiologen wie Döring, Logopäden wie Bönstrup, Sprachpädagogen und Mediziner. 
 
Vor ihrer Erkrankung war Meike eine des Besten in ihrer Klasse. Heute ist sie es wieder. Dem Außenstehenden offenbart sich Meikes Taubheit nur durch die Sprachprozessoren hinter den Ohren, die über Magnete mit den Implantaten verbunden sind. 
 
Zum Schlafen, Schwimmen oder Baden nimmt Meike die Prozessoren einfach ab. «In unserer Familie ist wieder Normalität eingekehrt», sagt Martina Hüsges.

50.000 Implantate

Rund 50 Kinder werden derzeit in Laurensberg therapiert. Weltweit tragen gut 50.000 Menschen ein Cochlea-Implantat, in der BRD fast 6000. 
 
Im Klinikum werden pro Jahr rund 30 Implantate eingesetzt. Aachen ist das drittgrößte CI-Zentrum in Deutschland. Besonders für seine Rundumversorgung wird die Aachener Einrichtung gerühmt.
 
Ein langer Therapietag am CIR neigt sich dem Ende zu. Meike, die kleine Schummlerin, bekommt ein neues, leicht verändertes Sprachprogramm verpasst, «Tuning» sagt Audiologe Albert Thauer dazu. 
 
All die Resultate und Eindrücke, die die Pädagogen, Logopäden und Audiologen den Tag über gesammelt haben, werden in die neue Software für Meikes Sprachcomputer eingespeist.
 
Noch einmal muss sich die Achtjährige konzentrieren, muss Töne und Wörter deuten, muss «laut», «leise», «hoch», tief», «rechts», «links» sagen. 
 
Meike wirkt müde nach dem anstrengenden Tag. Aber sie ist ganz Ohr.
 
Von Heinz-Roger Dohms 
 
Quelle: Aachener Zeitung
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