Skip to main content

Mein toter Hörnerv lebt ....

Vor ca. 45 Jahren hatte ich Masern, eine Kinderkrankheit, die mich im Alter von 19 Jahren befiel...
 
....plötzlich hörte ich viele hohe Töne nicht mehr. Also erster Arztbesuch mit anschließender großer Untersuchung in der Uni in Frankfurt. Dort wurde ich zum Röntgen auf eine runde Scheibe geschnallt und mein Kopf wurde von allen Seiten durchleuchtet.
 
Das Ergebnis: Beginnende Schwerhörigkeit auf beiden Seiten, bedingt durch gelähmten Hörnerv. Totale Taubheit bereits in 5 Jahren zu erwarten, mit Hoffnung aber erst mit zunehmendem Alter. Völlige Verzweiflung....., aber dann verbesserte sich plötzlich meine Hörfähigkeit und ich konnte meine neue Stelle an der Kreissparkasse Lauterbach/H. antreten. Zuvor war ich an der Stadtsparkasse in Frankfurt/Main tätig. Ich bin in Frankfurt/Main geboren. Bedingt durch den Krieg aber im Vogelsberg, der Heimat meiner Mutter aufgewachsen. 
 
Aber mit zunehmendem Alter verschlechterte sich meine Hörfähigkeit und ich musste deswegen meinen Dienst nach 21 Jahren aufgeben und beantragte Berufsunfähigkeitsrente ab 1982. Ich musste mich aus diesem Grund einer gründlichen Untersuchung durch einen Amtsarzt in Frankfurt zur Verfügung stellen. Es kam nun wieder die Bestätigung: „der Hörnerv ist tot". Dr. Brandstätter sagte damals zu mir: „Ich würde Ihnen so gerne helfen, aber ich sehe keine Möglichkeit. Vielleicht sind unsere Wissenschaftler in 30 Jahren so weit, dass sie was erfunden haben, aber ich glaube es nicht."
 
Damals tröstete mich noch mein lieber Mann und versprach für mich mitzuhören. Wir hörten nun keine Musik mehr, gingen nicht mehr in die Oper, Operette, in Musicals und Theateraufführungen.... alle Melodien waren in mir gespeichert und ich wollte sie nicht verzerrt erleben, meinen Klavierdeckel klappte ich für immer zu... und ich weinte um das Schönste im Leben, meine geliebte Musik, Abschied von „Beethovens 9." und die Unvollendete von Schubert erklangen nur noch „in" mir... Mein Mann legte nur noch Platten auf, wenn ich nicht zu Hause war... er wusste, wie weh mir ums Herz war. Auch das geliebte Vogelkonzert war für immer verstummt – mein Mann kannte alle Vögel samt ihren Stimmen... und ich bat, mach doch mal was für mich lauter nach, dann weinten wir zusammen...
 
Aber er half mir unendlich in Gesprächen mit Freunden und im täglichen Leben. Er gab für mich Antwort und übersetzte – seine Stimme war für mich unendlich vertraut und wir wurden des öfteren gefragt: „Ist ihre Frau Ausländerin?" 
 
Wir waren ein wunderbares Team in allem und ich wusste, was er dachte und er sprach aus, was mir gerade durch den Kopf ging... Aber wie es so im Leben ist, alles hat ein Ende, alles geht vorbei, nichts bleibt wie es ist, es fließt fortwährend, ändert sich...
 
Mein geliebter Mann starb im Januar 2000 und für mich brach nun die totale Stille an. Und erst jetzt kam mir zu Bewusstsein, wie entsetzlich ich behindert bin... und ich erinnerte mich an seine Frage „Wie willst du nur allein leben?" – Ja, wie sollte ich weiterleben?
 
Meine Tochter fuhr mit mir zu Frau Dr. Reinwald nach Gedern und sie veranlasste eine Untersuchung mit dem Ergebnis, dass in ihrer Praxis noch nie so eine schlechte Hörkurve aufgetreten ist... Ich hörte von den damals in 1982 bestehenden 40% nicht mehr als die Hälfte und sie verordnete mir Hörgeräte, die ich von Herrn Gensler bei Fa. Trabert in Gedern anpassen ließ. Zuerst war alles viel lauter, aber richtig Worte verstehen konnte ich damit auch nicht und so ging es 2 Jahre weiter. Ich übte mich weiter im Lippenablesen, aber es wurde immer schwieriger... und mein Freundeskreis zog sich so langsam aber stetig zurück. Ich wurde zu kompliziert für sie – man musste vieles aufschreiben – man tat es voller Mitleid, was mich am meisten ärgerte, denn ich bin ein ziemlich ungeduldiger Mensch und konnte verstehen, wenn meine Freunde nicht mehr allzu gern kamen. 
 
Meine ganze Einstellung, geprägt von Verzweiflung wurde immer aggressiver... ich zog mich von allen zurück. Was sollte ich auch auf den von mir genannten „chinesischen Veranstaltungen", wenn ich doch nichts mitbekam? Einmal erinnerte ich mich an eine Weihnachtsfeier unseres Landfrauenvereins, den ich mit gegründet hatte. Es kam ein Nikolaus mit vielen Päckchen und hatte für jede von uns ein Witzchen und alle bogen sich vor Lachen. Nur ich saß erstarrt in mitten dieser fröhlichen Schar und hätte so gern mitgelacht, denn mein Leben mit meinem Mann war von Humor, Frohsinn, Heiterkeit und viel Lachen geprägt. 
 
Der Nikolaus erkundigte sich über mich, was er verkehrt gemacht hätte... nichts... die ist taub! Mein Lachen war verstummt, mein tägliches frohes Singen... in mir war nur noch Weinen und eine große Sehnsucht, auch tot zu sein. Ich konnte diese Stille einfach nicht mehr ertragen... sie erstickte mich einfach.
 
...dann las ich eine Abhandlung über Cochlear Implantate in einer Zeitschrift aber es stand dabei, der Hörnerv muß in Ordnung sein... aber meiner war gelähmt oder schon tot... Aber ich fuhr nun wieder zu Frau Dr. Reinwald und bat um Hilfe. Die Hörgeräte waren für mich keine Hilfe und sie meinte, dass wir es mit einer Untersuchung an der Uni in Frankfurt/Main probieren sollen.... vielleicht.... vielleicht gab es doch eine winzige Hoffnung für mich.
 
...und so begannen im Oktober 2002 meine diversen Untersuchungen. Ich fahre zwar sehr gern Auto, aber die Innenstadt von Frankfurt/Main war mir nicht mehr vertraut und so fuhr mich mein Schwiegersohn und er saß all die langen Stunden des Wartens in den Fluren in der Uni bei mir und ich war ihm von Herzen dankbar.
 
...und ich erfuhr dort auch, dass es Ärzte gibt, die wissen, wie es Menschen zumute ist, die nicht hören, die ungefragt alles aufschreiben .... und das tat Oberarzt Dr. Kiefer und ich freute mich über seine so liebenswerte Art. Und am 17. Dezember, ein Vorweihnachtsgeschenk, eröffnete er mir: „Ihr Hörnerv lebt – wir können ihnen helfen – mit CI" und er erklärte mir in allen Einzelheiten diese OP. 
 
Ich hörte alle Engel im Himmel singen und wäre am liebsten gleich dort geblieben. Aber es war erst am 27.01. soweit... und meine DAK gab, nach langem Ringen mit dem Medizinischen Dienst genau einen Tag vor der OP ihre Zusage, die Kosten zu übernehmen. Ich war überglücklich, aber auch voll Angst... und nach der OP war, wie schon vorher erklärt, weiter tiefe Stille, bis auf die LKW`s, die Nachts in meinem Kopf brummten. Montag OP, Donnerstags zu Hause... und WARTEN auf HÖREN... bis zum 25.02.03!!! Dem Tag der Wiedergeburt
 
...und ich verkündete im Zimmer allen Mitpatientinnen ... „wenn am 25.02. in der Uni eine Explosion stattfindet, dann bin ich Schuld, ich springe dann vor Freude an die Decke !!!" Aber als ich dann von Prof. Dr. Stürzebecher die Außenteile angepasst bekam, war ich total erschüttert, ich hörte nur lautes GEQUAKE!! Der Professor sagte, dass ich froh sein soll, dies zu hören... Worte kämen dann später... ich weinte von Frankfurt bis Salz. 
 
Dann merkte ich täglich, dass er Recht hatte, es bildeten sich Worte und im Gegenüber mit Lippenablesen kann ich HÖREN und dann die Therapie in Friedberg im CIC bei liebenswerten Therapeutinnen wie Frau Bumann und Frau Michels lernte ich auch ein bisserl blindhören, aber das soll noch verbessert werden. Wir lachten dort viel und meine innere Spannung fiel ab... und ich danke ihnen für alle Mühe... danke vor allem unserem Herrgott, dass er Menschen erschaffen hat, die Erfindungen zum Wohle von Behinderten erfinden und Ärzte, die in Operationen diese dann vollenden. 
 
Meine größte Freude war am 10.03., die erste Amsel sang... am 25.05. hörte ich, wieder in meiner Wahlheimat angekommen, meine geliebte Gail in Kärnten, rauschen, sie floß so still. Ich weinte vor Freude und danke allen von Herzen und singe nun alle meine Lieder wieder.
 
 
Ich danke allen Ärzten der Uni in Frankfurt/Main, die mir ein neues Leben mit CI geschenkt haben. Ein Leben, das zwar batteriegesteuert ist, aber das mich die Worte meiner Mitmenschen verstehen lässt, ein Teilnehmen an vielen Dingen und wenn ich auch im Schwimmbad nur still meine Runden drehen kann, weiß ich, dass ich wenn ich draußen bin, mein Gerät zur Verfügung habe und hoffe, bald alles verstehen zu können. Auch die Menschen, die wie Maschinengewehre losknattern und auch die, die am Telefon schon jetzt annehmen, ach, sie hört doch wieder!
 
...und danke allen Menschen, die jetzt behutsam mit mir umgehen, die mir helfen, mich im Leben der Normalhörenden zurecht zu finden. Denn ich muß mich noch sehr anstrengen und hoffe nur, dass mein toter Hörnerv am Leben bleibt und nicht doch noch erlischt. Ich bin froh über das WUNDER nach 20 Jahren totaler Stille hören zu können und danke für mein NEUES LEBEN.
 
 
 
Nachsatz
Ich schrieb diesen Bericht für Herrn Michael Schwaninger, der in seiner liebevollen, verbindlichen Art mir geholfen hat, Adressen in Österreich zu bekommen, an die ich mich im Notfall wenden kann. Herrn Schwaninger lernte ich über die VdK-Zeitung kennen, in der er sich als Leidensgenosse darstellte. Erst später erfuhr ich, dass er Schriftführer des CIV HRM ist. Ich verbringe seit 1987 die Sommermonate in Kärnten und bin also über 700 km vom CIC Friedberg entfernt. 
 
  • Erstellt am .