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Sei froh, dass man deine Behinderung nicht sieht!

Diesen Satz sagte eine gute Freundin und ich weiß, dass sie ihn ehrlich meinte und mir damit nach meiner Ertaubung Trost zusprechen wollte. Ja, ich bin durch meine Ertaubung schwerbehindert und auch mit Cochlear Implantat schwerhörig und damit nicht mehr uneingeschränkt kommunikationsfähig. Und sicherlich bin ich auch in vielen Situationen sehr froh darüber, dass man mir meine Behinderung nicht immer ansieht, eine Stigmatisierung ausbleibt. Andere behinderte (oder beeinträchtigte) Menschen haben es in unserer Gesellschaft oft viel schwerer, werden angestarrt, gemieden usw. Sie wären bestimmt dankbar, wenn man ihre Behinderung nicht sehen würde. 
 
Trotzdem bin ich nachdenklich geworden und habe über die Hörbehinderung nachgedacht. Weil der andere sie nicht sieht, kann sie oft zum Problem, ja sogar zu einem Hindernis werden. Eine Hörbehinderung ist eine Einschränkung, die gerade im Kontakt zu anderen Menschen Grenzen und Probleme aufzeigt: 
beim Einkaufen kann man an der Theke oft die Bedienung nicht verstehen, weil Musik im Hintergrund spielt, gerade eine Durchsage kommt, sich die anderen Kunden in der Warteschlange miteinander unterhalten: 
an der Kasse kann man den Betrag nicht hören, weil der Umgebungslärm zu groß ist: 
im Straßencafé kann man keine lockere Unterhaltung führen oder die Bedienung nicht verstehen, weil der Straßenlärm stört; 
auf dem Bahnhof kann man die Durchsagen nicht hören, weil der Sprecher undeutlich spricht und ein gerade einlaufender Zug bzw. der Störlärm alles übertönt: 
auf dem Bürgersteig kann man den Passanten nicht vorbei lassen, weil dieser mich auf dem nicht versorgten Ohr anspricht;
im Zug kann man die Durchsagen nicht entschlüsseln, weil die Übertragungsqualität schon für einen normal Hörenden zu schlecht ist.
Es gibt noch viele, viele dieser Alltagssituationen, die deutlich machen, dass man als Hörgeschädigter viele Informationen nicht erfährt.
 
So bin ich dann in all diesen Situationen aufgefordert, meine Behinderung zu erklären. Ich muss meinen Mitmenschen mitteilen, dass ich schwerhörig bin, dass ich nicht richtig verstehe, dass ich etwas nicht verstanden habe. Das ist auch kein Problem für mich, ja, ich sage es selbstbewusst: "Es tut mir leid, ich bin schwerhörig, ich konnte Sie nicht verstehen, könnten Sie dies bitte noch einmal wiederholen?" Daraufhin schauen die meisten verdutzt, oft sogar verlegen, wiederholen aber selbstverständlich, oft aber genauso leise und undeutlich wie zuvor. 
 
Ich spüre, mein Gegenüber glaubt mir nicht oder versteht mein Problem nicht.
 
So erlebte ich erst kürzlich eine Situation in der Bahn: Die Durchsage war sehr wichtig für mich, da der Zug verspätet und meine Anschlussverbindung nicht mehr gültig war. Ich hatte die Durchsage nicht gehört, fragte dann den Zugbegleiter nach der bestmöglichen Verbindung. Ich erklärte, dass ich nicht gut höre, doch dieser antwortete nur: 
 
"Dann hören Sie doch besser hin!" 
 
Ich wiederholte noch einmal, dass ich schwerhörig bin, die Ansage nicht verstehen könne, er mir doch bitte sagen möchte, wie mein weiterer Reiseverlauf nun wäre. Alle Mitreisenden waren inzwischen aufmerksam, schauten interessiert, sie sahen meine Behinderung nicht, aber alle waren nun darüber informiert. Vielleicht wäre es da manchmal einfacher, man sähe mein CI und damit meine Behinderung! Vielleicht wäre man etwas sensibler, auch wenn eine Hörbehinderung schwer nachzuvollziehen ist. 
Leider hatte ich auch mit dieser zweiten Bitte keinen Erfolg, der Zugbegleiter schaute nicht ins Fahrtenbuch, bemerkte nur, dann sollten doch die beiden mir gegenüber sitzenden Mitreisenden für mich zuhören. 
 
Ich fühlte mich mit meiner Behinderung nicht Ernst genommen, war zutiefst verletzt. 
 
Zum Glück waren dann die beiden mitreisenden Herren so nett, für mich aufmerksam zu hören und mir weiterzuhelfen. Wäre diese Situation eine andere gewesen, wenn man mir die Behinderung angesehen hätte? Oder liegt es daran, dass eine Hörschädigung in ihrem Ausmaß und ihrer Einschränkung von anderen oft nicht richtig nachvollzogen werden kann? Oder liegt es einfach nur daran, dass unsere Gesellschaft das Miteinander immer weniger lebt.
 
Wir sind im Jahr der Behinderten! Ich bin der Meinung, dass es eigentlich egal sein sollte, ob man nun eine Behinderung sieht oder nicht. Wichtig wäre einfach, dem Mitmenschen, der Hilfe benötigt oder um Hilfe bittet, egal ob er behindert ist oder nicht, auch zu helfen.
 
Ute Jung
Wilhelmstrasse 45
56584 Anhausen
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