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Cochlea Implantation mit sieben Monaten

Von Marie L.

Unsere Tochter kommt im Juli 2021 zur Welt. Munter und neugierig von Beginn an. Ausgeglichen. Durch kein Geräusch aus der Ruhe zu bringen. Wir wollen das Krankenhaus an Tag 2 verlassen. Das Neugeborenen-Hörscreening mache ich gerne noch stationär. Es heißt, das Gerät sei kaputt, wir müssten es am nächsten Tag noch einmal mit Ersatz einer anderen Station versuchen. Es ist schon Abend. So wird es Tag 3. Vielleicht noch zu viel Fruchtwasser in den Gehörgängen. Wir gehen nach Hause - kommen ambulant zurück.

Unsere Tochter ist Taub.

Bis das feststeht bzw. das Ausmaß ihrer Hörbeeinträchtigung final ausgelotet ist, vergeht einige Zeit.

Schon während des Prozesses kreisen unsere Gedanken als Eltern. Welcher Ausgang hätte welche

Konsequenz? Gibt es überhaupt Handlungsbedarf und sollte man ein Kind „optimieren“? Darf man das wollen? Welche Tragweite hätte es, das nicht zu tun? ...

HNO-Arzt, Pädaudiologie der Uniklinik Frankfurt, Frühförderung, Akustikerin. Viele Gespräche - Verzweiflung, nicht aufgrund der Tatsache selbst, sondern schlichtweg aus Angst für mein Kind die falsche Entscheidung zu treffen. Sie erscheint mir ausgeliefert. Wir treffen jeden Tag Entscheidungen für unsere Kinder, doch diese Tragweite ist neu.

Wir strecken unsere Fühler in alle Richtungen aus und saugen neben Bergen an Fakten auch Erfahrungen auf; lernen dabei auch eine Familie kennen, die uns bis heute sehr nahesteht.

Mit drei Monaten bekommt unsere Tochter Hochleistungs-Hörgeräte, um den Hörnerv zu trainieren und die Gewöhnung an „etwas am Kopf“ zu fördern. Wir beginnen mit Babygebärden. Wir schließen Cochlea Implantate (CIs) nicht aus, unsere finale Entscheidung ist aber noch nicht gefallen. Nicht zuletzt deswegen, weil die Existenz eines intakten Hörnervens zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachgewiesen ist. Das ändert sich jedoch bald.

Das Jahr geht zu Ende und aus der Frage in unseren Köpfen, ob wir unsere Tochter mit einer Entscheidung für CIs ihrer tauben Identität berauben würden, reift aus allen Puzzleteilen die Überzeugung, sie nicht einer Welt zu berauben, sondern ihr eine zusätzliche, die hörende Welt, eröffnen zu können.

Der Begriff „Taub“ schließt in Anlehnung an das Konzept „Deafhood“ Identitäten und Lebensrealitäten wie schwerhörig, spätertaubt oder auch CI-tragend mit ein. Ein Umstand, der mir einige Monate nach der Operation beim Einlesen begegnet und mich ganz tief berührt. Dieser eine Satz sagt mir: Sie darf immer noch „dazugehören.“ Meine Angst unbegründet. Meine Tochter wird später selbst wählen oder sich auch in beiden Welten zuhause fühlen können. Die Entscheidung für einen Hausgebärdensprachkurs fällt. Alle Wege bahnen, jede Entscheidung akzeptieren, das wird unser Credo.

Unsere Tochter bekommt beidseitig und einzeitig CIs implantiert als sie sieben Monate alt ist.

Den Diagnostiktag mit CT und MRT haben wir als so etwas wie die Generalprobe bereits hinter uns. Nach 3,5 Stunden ist mein zu diesem Zeitpunkt erst 6 Monate altes Kind wieder bei mir. Nun geht es um 5 Stunden. Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich habe keine Angst. Ich habe große Angst und verbringe die Zeit im Krankenhaus wegen aktueller Corona-Bestimmungen allein mit unserer Tochter.

Uniklinik Frankfurt am Main. Die Anreise am Vorabend eine gute Idee. Zugang legen. Ankommen. Die Zeit gemeinsam ganz intensiv genießen, kuscheln, sich zurechtfinden. Um 2 Uhr das letzte Mal stillen. Nüchtern bleiben. Um 7 Uhr kurzes Chefarzt-Gespräch, dieser operiert selbst. Kurz darauf OP-Kittel, Haube und Überzieh-Schuhe anlegen. Nochmal alles auf Anfang – ein Notfall kommt dazwischen.

Erleichterung: trügerisch, denn schließlich findet die OP ja einfach später statt und doch große Dankbarkeit, dass es sich bei uns eben nicht um einen Notfall handelt. Ich fühle mich aufgrund dieses Gedankens plötzlich ruhiger: Wir wollen das hier, wir haben uns dafür entschieden.

Um 9:30 Uhr nochmal alle an den Start: Kuscheldecke, Stoff-Faultier und Schnuller dürfen mit. Ich bestehe auf die zusätzliche Gabe eines Beruhigungszäpfchens, welches am Diagnostiktag eine reibungslose und gefasste, aber doch bewusste Übergabe möglich gemacht hat. Meine Tochter strahlt derweil von meinem Arm aus das Anästhesie-Team reihum an und gewinnt die Herzen. Das Zäpfchen wirkt. Ich wiege sie, bis sie schließlich loslässt und mich nur noch tief atmend anblinzelt. Ich übergebe sie der Anästhesistin. Und warte.

„Es ist alles gut gelaufen. Keine besonderen Vorkommnisse, alles in Ordnung.“ Diese Worte holen mich zurück ins Hier und Jetzt. Um 14 Uhr stehe ich bereits wieder im Aufwachraum und frage mich gerade, wie ich die letzten Stunden rumbekommen habe, da wird das Bettchen meiner Tochter um die Ecke gefahren.

Ihre Augen bekommt sie noch gar nicht auf, doch sie versucht sich schon aufzurichten. Ich kann sie sofort hochnehmen und sie stillt ausgiebig nach 12 Stunden Nüchternheit.

Der Anblick des großen Kopfverbandes gelingt nicht emotionslos. Ich durfte aber bereits teilhaben an den Erinnerungen und Fotos unserer Freunde und ihrer Tochter, die vor ein paar Jahren den gleichen Weg gingen, sodass schnell die Akzeptanz gelingt. Ich weiß zu diesem Zeitpunkt auch schon, wie es aussehen wird, wenn der Verband in ein paar Tagen abkommt. Das hilft, mich vorbereitet zu fühlen und jetzt nach der OP ganz bei meinem Kind sein zu können. Denn so ein kleiner Kopf mit Riesenverband sieht einfach erstmal wild aus. Da gibt es nichts zu beschönigen. Geschnitten wurde am Ohransatz und die Wunden anschließend mit Gewebekleber versorgt und nicht genäht. Schmerzlos und ohne die Notwendigkeit späterer Fadenentfernung.

Bis zum nächsten Morgen hat sie immer mal wieder etwas Nasenbluten, irgendwann stört das die Atmung bzw. beim Stillen, denn das ist, was sie die ersten 24 Stunden nach der OP neben Schlafen am meisten tut. Ein paar Nasentropfen helfen jedoch und dann sehe ich am Folgemorgen endlich wieder das, worauf ich mich am meisten gefreut habe – ihr Lächeln. Am Nachmittag jedoch sieht sie sich selbst nicht mehr so ähnlich, denn es hat sich viel Wasser oben auf dem Kopf sowie auch an der gesamten rechten Gesichtshälfte gesammelt. Es wird noch ein Röntgenbild gemacht, bei dem alles unauffällig aussieht und am zweiten Tag nach der OP wird Verband schon durch Pflaster ersetzt. Der nachlassende Druck trägt erheblich zum Abfluss des Wassers im Gesicht bei. Schon bald ist unser Kind wieder das blühende Leben, bis auf das Veilchen unterm rechten Auge sieht man ihr die OP kaum mehr an. Sie ist aktiv und aufmerksam wie eh und je.

Wir verlassen das Krankenhaus. Am Horizont der Gedanken zieht die Erstanpassung auf. Bislang lief alles auf die OP zu; die Energien wurden daraufhin gebündelt, als wäre es dann geschafft. Doch nun wird uns erst richtig klar, dass wir erst am Anfang des Prozesses stehen. So viel Anspannung der vergangenen Wochen ist abgefallen, doch genauso schwer fühlt es sich nun plötzlich wieder an. Wir lenken uns ab mit Recherche, mit Zahlen des Erfolgs, mit Prozenten und Erfahrungsberichten und wissen doch auch um die andere Seite. Wir stellen nicht unsere Entscheidung infrage in diesen Tagen und Wochen, aber immer wieder blitzt sie durch – die Angst. Werden die Implantate unserer Tochter den Nutzen bringen, den wir uns für sie wünschen? Wie wird die neue, hörende, Welt von ihr aufgenommen werden? Wird sie sie überfordern oder kann sie die Höreindrücke gut akzeptieren? Wie wird die Sprachentwicklung laufen? Können wir sie parallel gut genug mit der Deutschen Gebärdensprache unterstützen? Und nicht zuletzt die großen Gedanken in puncto Identität und einem Leben zwischen zwei Welten.

Um ehrlich zu sein, sind dies alles Aspekte, deren Auflösung bzw. deren tatsächliche finale Bewertung noch weit in der Zukunft liegen und doch können wir heute, ca. sieben Monate nach der OP für viele Punkte eine ganz deutlich positive Tendenz aussprechen. So lief die Erstanpassung in der Pädaudiologie der Uniklinik Frankfurt ab vier Wochen nach der OP ohne nennenswerte Irritationen für unsere Tochter ab, da ihr die CIs über acht Wochen hinweg regelmäßig sehr behutsam, spielerisch und mit großartigem Blick für ihre Bedürfnisse angepasst wurden. So landete sie am Ende dieser ersten Grundanpassung bereits bei Hörreaktionen von 50-60 dB. Zwei Reha-Aufenthalte von je drei Tagen im CIC Rhein-Main später konnte dieser Bereich nun sogar auf ca. 40 dB herabgesetzt werden – grundsätzlich erstmal tolle Bedingungen.

Durch das Netz aus Pädaudiologie (aktuell alle drei Monate zur Anpassung und Logopädieberatung), Frühförderung (alle zwei Wochen), Hausgebärdensprachkurs (2x die Woche) und nicht zuletzt die Reha-Einrichtung (aktuell alle drei Monate für je drei Tage) fühle ich mich gut aufgehoben. Ja, es sind viele Termine; die hochfrequentesten davon allerdings zuhause, was Fluch und Segen gleichermaßen ist. Natürlich entfällt der Fahrtweg und birgt somit Zeit- und Organisationsersparnis. Zu Beginn fiel es mir dafür nicht so leicht, so oft Fremde in unser Zuhause zu lassen. Mittlerweile ist gerade dadurch aber auch ein ganz eigenes professionelles, aber vertrautes Band entstanden ist. Die unterschiedlichen Disziplinen reden miteinander und unterstützen beispielsweise auch in Gesprächen mit Betreuungseinrichtungen wie Kindertagesstätten.

Unsere Tochter hat mit ihren 14 Monaten heute großen Spaß an ihrer Musikkiste und wird nicht müde sich durch sämtliche Rasseln und sonstigen Instrumente zu probieren. Während unser hörender Sohn, alle Gegenstände immer sehr genau betrachtet und befühlt hat, ist ihre erste Handlung stets das Geräusch zu erkunden, welches ein neuer Gegenstand im Zusammenprall mit einem anderen Gegenstand oder aber dem Boden macht. Anhand ihres Lautierens und nicht nur am Tonfall kann man ganz deutlich Ärgernisse von positiven Zuschreibungen unterscheiden. Sie sagt „Mama“, „Baba“ und „Neineinei“ und kann unsere Stimmen voneinander unterscheiden. Sie versucht sehr erfolgreich Geräuschquellen auszumachen und mag Bücher, bei denen man durch Knopfdruck ein Geräusch oder ein Lied abspielen kann. Auch merken wir mittlerweile ganz deutlich, dass ein gewisses Sprachverständnis eingesetzt hat. So können wir sie bitten ein Buch zu holen oder die Gabel beim Essen in die Hand zu nehmen oder sie fragen wo ihre Schuhe sind und werden in den meisten Fällen nicht enttäuscht. Den Namen ihres Bruders gebärdet sie, ebenso wie „essen“, „was?“ (analog zu „Da?“, wenn sie etwas gezeigt oder erklärt bekommen möchte), „holen“ und „Mama“.

Was das Tragen der Geräte angeht, haben sich bei uns Stirnbänder mit seitlichen Taschen bewährt, die man vorne am Kopf zu einem schönen Knoten fassen kann. Auf diese Weise halten Sie länger, da sie über einen großen Zeitraum mitwachsen; dabei sehen sie auch einfach schön aus und nehmen in meinen Augen auch ein wenig das medizinische Aussehen, wenn man sich wie wir nicht ohnehin für eines der zahlreichen ausgefallenen Designs entscheiden möchte.

Unsere Tochter hat nun CIs und erschließt sich langsam, aber sicher eine Welt voller Geräusche. Unsere Tochter hat nun CIs und bleibt doch vom Ursprung her Taub.

Wir finden das einen Umstand, der nicht zu vernachlässigen ist, da es immer wieder Situationen gibt, in denen sie die CIs, wenn sie müde wird oder es ihr mal zu viel ist, einfach selbst ablegt; in denen sie im Spiel vom Kopf rutschen oder in denen sie sie beim Baden oder beim Schlafen nicht trägt. In allen diesen Situationen wünschen wir uns dennoch ein probates Mittel der Kommunikation mit unserer Tochter. Keine Notlösung, sondern ein vollwertiges System wie die Deutsche Gebärdensprache (DGS), mindestens lautsprachbegleitend. Wir merken bereits jetzt wie nach und nach das Bedürfnis unserer Tochter nach sprachlicher Kommunikation steigt; wie ihr kleiner Zeigefinger auf immer neue Dinge zeigt, um sie benannt und erklärt zu bekommen und wie wir uns in den Lücken zu weit voneinander entfernt fühlten.

Unsere Tochter hat den Spracherwerb noch nicht gemeistert und wie bei allen CI-Kindern ist auch nicht vollständig klar ob und wie gut das gelingen wird. Ansonsten wären die CI-Pausen u. U. weniger kritisch zu sehen, denn Lippenlesen und sich selbst lautsprachlich ausdrücken können stünden als Optionen bereit. Auch ganz grundsätzlich zur Förderung des Spracherwerbs ist die Begleitung durch Gebärden nicht zu vernachlässigen, weswegen für uns die Entscheidung für die CIs untrennbar mit der Entscheidung für das Gebärden zusammenhängt.

Wir wünschen allen Eltern, die gerade vor der gleichen Entscheidung stehen wie wir vor geraumer Zeit, eine gute multidimensionale Beratung und vertrauensvollen Austausch mit Freunden oder Familienangehörigen und auch betroffenen Menschen. Alles Gute!

Marie L.
Oktober 2022