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Meine Hörreise

Von Isabell Houssein Oglou

Hallo liebe Community,

Dies ist mein erster Blogbeitrag und vermutlich auch der letzte. Bitte habt Nachsicht mit mir, da ich absolut keine Ahnung habe, wie so etwas gestaltet wird.

Mein Name ist Isabell Houssein Oglou und ich bin mittlerweile 36 Jahre alt. Gefühlt eher um die 80 Jahre, aber jeder ist ja so alt, wie er/sie sich fühlt;-) Bin Mutter von drei wilden Kerlen, verwöhnte Ehefrau, Futterkönigin zweier pupsenden Bully's, leidenschaftliche Augenoptikerin und nervtötende Freundin. Alles in einem hat mich wohl über meine mental schwierigste Zeit gebracht: Mein Hörverlust.

Dieser begann vermutlich ab meinem ca. 30ten Lebensjahr. Die Vorwarnung meiner hellseherischen Chefin, die mir prophezeite, dass mein Körper ab 30 Jahren abbaut, hatte ich zur Kenntnis genommen. Tatsächlich war es aber auch diese Person, die mein "Gehör" als erste in Frage stellte. Nun ja, Zuhause fiel es ebenfalls auf. Doch man schiebt so einiges davor: Müdigkeit, Stress, neue Räumlichkeiten...usw.

Hörgeräte sind für mich, durch meinen Beruf, nichts Fremdes, daher ging ich den Weg einen HNO-Arzt aufzusuchen, um ein Rezept zu erhalten.

Dieser war so liebevoll nach meinem ersten Hörtest und hat mir erstmal erklärt, warum im englischen "dump" mit "dumm" verglichen wird, knallte mir ein Rezept für Hörgeräte hin. "Nehmen Sie die Kassengeräte und kaufen Sie noch nichts, erst nochmal herkommen." 🙄 Natürlich ist es das Normalste der Welt, mit nicht mal 31 Jahren so schlecht zu hören *nicht*. Was solls... Next stop... Hörgeräteakustiker....

Diese lahme Geschichte erspare ich euch und spule bis zu dem Teil vor, wo mit beidseitigen Hörgeräten (Zuzahlung knapp 2500 Euro) mir nach 2 Jahren gesagt wurde, dass auch Hörgeräte ihre Grenzen haben 🥺.

Puhhh, tatsächlich hat mich im Leben noch nie so die Angst gepackt. Ein Sinnesorgan verlieren? Dem HNO-Arzt waren die Gründe egal, mir aber nicht.

Wie soll ich ohne hören arbeiten? Wie soll ich ohne Sprachverstehen bei Hausaufgaben helfen? Wie kann ich die 10minütigen Sprachnachrichten meiner besten Freundin über ihr Pupetier noch verstehen?

Es gab eine innerliche Eskalation. Es muss aufgehalten werden. Erster Gedanke: ich muss das Rauchen aufhören. Dieser Schritt hat mich mit meiner gleichzeitigen Wut in eine Art Sportsucht getrieben. Nahrungsergänzungsmittel, Tao Yoga, Tinnitushörtraining, gesunde Ernährung, Sport, Meditation..... WUT..... TRÄNEN... WARUM ICH?

Ich konnte es nicht aufhalten.

Trotzdem war ich nicht bereit aufzugeben. Es muss einen Grund geben, es muss eine Lösung geben. Durch unzählige Bücher über Ohrenheilkunde und Opvideos aller Art: Otosklerose, Tumoren und CI-OP, bekam ich über die Hörbegleiter im Internet ganz viel Infomaterial zum Cochlea Implantat.

Telefonieren ging ja auch schon nicht mehr, somit haben die lieben Hörbegleiter mir einen Termin im Tübinger Hörzentrum vermittelt (HNO-Klinik).

Mein persönlicher "Gamechanger". Zum ersten Mal wurde ich ernst genommen, zum ersten Mal wurde nach Gründen gesucht, zum ersten Mal DIE LÖSUNG angeboten. Die Coronapandemie war schon im Gange und ich brauch euch vermutlich nicht erzählen, wie bescheiden all die Termine mit maskentragendem Personal und Ärzten waren. Nicht mal die Hälfte zu verstehen, was beim MRT-Gespräch oder in der Ambulanz für Multiple Sklerose gefragt oder gesagt wurde, kratzte ganz schön an meinem Ego.... Plötzlich war ich eine schlecht verstehende Immigrantin. Augen verdrehen beim wiederholten Nachfragen, extrem lautes und einfaches Deutsch... Ach, wem erzähl ich das? Alles Schnee von gestern.

Corona hat auch mich verunsichert und wer wollte schon freiwillig das Risiko 2020 eingehen sich im Krankenhaus was einzufangen? Tja, wäre da nicht die Maskenpflicht gewesen. Plötzlich habe ich keinen Kunden mehr verstanden, keinen Kollegen, kein Smalltalk beim Einkaufen... Ich wechselte die Straßenseite, um bloß mit niemandem sprechen zu müssen. Ich? Die Labertasche, die jeden Hinz und Kunz kennt? Ich, die ihre Kunden und Kollegen liebt und eigentlich fachkundige Auskunft gibt? Nicht mehr zum Elternabend gehen kann, Feiertage und Geburtstage mit Herzrasen entgegen blickt.... TRÄNEN.

Ich war bereit, hatte nichts mehr zu verlieren und dieses Fitzelchen Restgehör war nix mehr Wert.

September 2020 war meine CI-OP auf der linken Seite. Anfang November war die Erstanpassung meines Rondos 3. Meine Erwartungen waren bei null. Ich wusste, dass es hart wird. Aber ich war bereit, nochmal alles zu geben. Das Geschrei und Gestreite meiner Kinder zu hören, die aufgestauten 10minütigen Sprachnachrichten, meine Lieblingssendungen endlich mal wieder angucken zu können, einen Termin per Telefon machen können, jemandem draußen Kontra zu geben, ohne Angst zu haben, etwas nicht zu verstehen.... All das wartet auf mich und noch sooo viel mehr.

Es war so weit. Ich bin bereit für Mickey Maus Stimmen. Herzrasen, die Erstanpassung. Nein, ich muss euch enttäuschen. Es gibt kein herzzerreißendes Video. Mein Blick war eher 😳 oder noch 🤔.

Typische Frage: Können Sie mich verstehen? Erwiderte ich mit: Ich brauch mehr Power 🙈 Es war sehr leise und ich war verwirrt. Ich versteh, was sie sagt, mehr als mit meinem Hörgerät davor. Sie installierte mit mir die MedEl App, erklärte mir alles Technische und zeigte mir die Verbindungsmöglichkeiten zum Üben. Ich traute mich aber nicht mich zu freuen.

Bei der Heimfahrt verstand ich zum ersten Mal wieder den Moderator im Radio. Ich verstand meinem Mann, über die App auch Zahlen, Wörter, Sätze... OMG. Ein Glückspilz bin ich. Ein Traum?

Natürlich habe ich erstmal meine beste Freundin besucht, ja die Frau mit den langen Nachrichten 😂, die mich nicht im Stich ließ, die immer Rücksicht auf mich genommen hat, mit der ich vier Jahre lang keine Serien schauen konnte😭😭😭.

Da ich ein fleißiges Bienchen bin, bin ich wöchentlich zum Hörtraining (=Logopädin) gegangen, ich habe jeden Tag per App Kurse gemacht, per Youtube Deutschkurse gehört, meine ambulante Reha besucht und mich an Musik und Filme getraut.

Diesen Monat hatte ich meine zweite CI-OP für die rechte Seite. Auch das hieß loslassen vom Restgehör. Da ich nichts nachtrauern möchte, habe ich mir für diese Entscheidung zwei Jahre Zeit gelassen. Nun beginnt ab Oktober eine neue Hörreise, aber diesmal in Stereo 🤪. Es wird aufregend, vermutlich anders, vielleicht schwerer, vielleicht aber auch leichter.... Denn jede Hörreise und Hörgeschichte ist eine individuelle.

Da dieser Text unendlich lang geworden ist und wahrscheinlich eh keiner bis zum Ende gelesen hat, möchte ich die Gunst der Stunde nutzen, um meinen unendlichen Dank aussprechen. In erster Linie an meinen Mann, der mich nie im Stich gelassen hat und meinen seelischen tiefsten Punkt ausgehalten hat. Meine Freundin, die ihre Sprachnachrrichten noch mit Störlärm (ich hasse diesen Thermomix) ergänzen konnte, das Hörzentrum und das Ambulante Rehateam, denn diese sind nicht nur fachkompetent sondern Seelentröster und Seelenflicker, meiner Familie, die mir die Möglichkeit gegeben hat all die Termine wahr zunehmen, meinen Kolleginnen und Kollegen die mich nicht geschont hatten und den Erfindern des Cochlea Implantates. ♥️ D A N K E ♥️

Diese ungewöhnliche Erfahrung hat mich stärker gemacht und mir neue Freundschaften beschert. Es gibt so viele von uns da draußen.... Jeder mit einer eigenen Hörgeschichte.

Vielen Dank fürs Lesen 😉

Isabell Houssein-Oglou
Oktober 2022