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„Der Löwe schläft“

und die Diagnose meiner Hörschädigung

Von Ulrike Berger

Wann ich wohl schwerhörig wurde? Wir wissen es nicht. Die Sprachentwicklung verlief unauffällig, ich kam in den Regelkindergarten. Irgendwo da muss es angefangen haben. Doch niemand merkte es. Was auffiel, war ein „Sprachfehler“, der den Besuch bei einer Logopädin bedeutete. Leider wurde damals nicht erkannt, woher der Sprachfehler kam.

Auf ging es in die ganz normale Grundschule. Meine Mutter schöpfte bereits Verdacht, doch alle beruhigten sie: „Ulrike kann so konzentriert spielen, nichts lenkt sie ab“ – na klar, ich hörte ja wenig! Bockig war ich, einen Dickschädel hatte ich damals schon. Auch das ist sicher (naja, zum Teil) der Hörschädigung geschuldet: Die Überforderungen tagsüber führten manchmal zu explosivem Verhalten abends. Und immer noch fiel niemandem etwas auf.

In der dritten Klasse kam es zum „Show-down“. Wir spielten „Der Löwe schläft“. Dabei kauert ein Kind mit verbundenen Augen in der Mitte und bewacht einen Schatz, die anderen Kinder stehen im Kreis. Ein Kind schleicht sich heran, versucht ganz leise den Schatz zu stehlen. Der Löwe hört aufmerksam und zeigt dorthin, wo das Geräusch zu hören ist. Tja, ich Löwchen saß in der Mitte – und die Kinder klauten in aller Ruhe den Schatz. Nichts hörte ich!

Jetzt war es eindeutig klar: Das Kind ist schwerhörig. Besuche beim HNO-Arzt und eine Hörgeräteversorgung standen an. Wie man damals eine korrekte Hörkurve messen konnte, ist mir ein Rätsel. Ich sehe mich noch in der Hörkabine sitzen, mit Kopfhörern auf den Ohren.

Vor mir, hinter einer Scheibe, saß die Arzthelferin, die das Audiogramm machte und auf mein Signal wartete. Bei jedem Ton hob sie den Kopf und wartete auf das Aufleuchten des Lämpchens über ihr (Was der Sinn hinter dieser Anordnung war, ist mir heute noch ein Rätsel).

Brav, wie ich war (bin?), wollte ich natürlich alles richtig machen. Also auf den Kopf der Arzthelferin schauen und in dem Moment, wenn sie den Kopf hob, aufs Knöpfchen drücken – war alles okay, bin ich gut? Solche Anekdoten habe ich zahlreich im Kopf…

Es folgte die erste Hörgeräte-Versorgung. Damals war das nur ein Hörgerät, das ich abwechselnd eine Woche links, eine Woche rechts trug. Heute unvorstellbar.

Nun stand der Wechsel auf die weiterführende Schule an. Wohin sollte die Reise gehen? Die „HNO-Szene“ plädierte für Stegen, eine Schule für Hör- und Sprachgeschädigte bei Freiburg. Meine Eltern jedoch waren von dem Gedanken nicht begeistert, dass ich auf ein Internat gehen sollte. Zumal die (Regel-)Schule mir ja leichtfiel! Daher wechselte ich auf ein (Regel-)Gymnasium (altsprachlich, damit die erste Fremdsprache nicht gleich mit Hören zu tun haben würde). Immer wurde genau geschaut, ob ich klarkäme. Denn Stegen blieb eine Option, falls ich Probleme bekommen sollte. Doch diese kamen nicht.

Meine Schwerhörigenkarriere nahm ihren Lauf. Zunächst kam das zweite Hörgerät, ab der 8. Klasse eine der ersten FM-Anlagen. Ich lernte früh, mit meiner Hörschädigung selbst klarzukommen. Anfangs des Schuljahrs erklärte ich selbst den neuen Lehrerinnen und Lehrern mein „Problem“ und die Nutzung der FM-Anlage. Die Mitschüler*innen wussten Bescheid. Ich durfte immer vorne sitzen. Meine Schule kam mir entgegen, sie hatten vorher schon Erfahrungen mit behinderten Schülern gemacht (eine Contergan-Schülerin, ein MS-Schüler, der zeitweise auf den Rollstuhl angewiesen war). Das war mein großes Glück, denn von Inklusion oder gar einer Betreuung durch eine Schwerhörigenpädagogin war damals noch nichts bekannt.

Meine Eltern fuhren mit mir regelmäßig von Pforzheim zur HNO-Klinik in Mainz, unterstützten mich zuhause „moralisch“, gaben mir Tipps und übten Lösungen mit mir, trösteten mich, wenn es mal Tränen gab. Doch ihre Devise war, dass ich mir meinen Weg selbst bahnen sollte. Ich bin ihnen sehr dankbar für diesen „Mittelweg“, er hat mir eine positive Grundhaltung gegeben und mich stark gemacht.

Nach dem Abitur ging’s für fast 1,5 Jahre als AuPair in die USA. Was für ein Abenteuer – und Augenöffner, was mein Selbstbewusstsein als Schwerhörige betraf! Ein Land, in dem ich bei Behinderungen eine neue Devise erleben durfte: nicht „Das geht nicht, weil du nicht gut hörst“, sondern ein „Wie lösen wir, dass du das nicht gut verstehst?“ Wie selbstverständlich war es dort, dass ich in Kinos Untertitel bekam, in der Post eine Induktionsschleife lag, ich in Museen die Audioguide-Führung als Handout bekam, in meiner Gastfamilie kreative Lösungen für Telefon und TV gesucht – und gefunden wurden! Ich kam zurück mit der Devise, dass es in meinem Hörgeschädigten-Leben keine Grenzen geben sollte.

Studium der Biologie, ein Verlags-Volontariat mit parallelem Pädagogik-Studium, 11 Jahre Lektorin für Kinder- und Jugendbücher, Kinder- und Jugendzeitschriften … und die Hörgeräte wurden größer und größer, bis es einfach nicht mehr weiterging. Ich hatte mich lange gegen eine CI-OP gesträubt. Doch dann war das Ende erreicht – die Kräfte, welche für ein Leben mit den Power-Hörgeräten benötigt wurden, reichten einfach nicht mehr.

Schweren Herzens lag ich nun auf dem OP-Tisch. Und danach war es eine lange Reise. An das erste Jahr denke ich nicht gerne zurück, es war ein harter Kampf. Hatte ich mich vielleicht zu spät für das Cochlea Implantat (CI) entschieden? Nein, da bin ich mir sicher. Der richtige Moment für ein CI ist dann, wenn man wirklich bereit dazu ist. Und das war ich eben erst zu diesem Zeitpunkt. Und kein Jahr früher.

Nach 10 Jahren Verlag und einem nun gut rehabilitierten Ohr wagte ich einen beruflichen Neustart (langweilig wird es mir nicht). In einem Elektrogroßhandel leitete ich die nächsten 10 Jahre die dortige Akademie – ich war verantwortlich für die Weiterbildung von fast 1000 Mitarbeiter*innen und unseren Kunden. Das Leiten von Seminaren, Vorträge vor Gruppen halten, Sitzungen etc. gehörten zu meinem Aufgabengebiet. Das zweite CI fiel in diese Zeit und erleichterte diese Aufgaben.

Ob meine Hörschädigung, meine CIs irgendwie „Probleme“ für mich machten? Selten, schon von klein auf trage ich meine Hörhilfen auffällig. Als noch niemand von bunten Hörgeräten oder Otoplastiken sprach, hatte ich bereits Zirkonia an meinen Ohrmuschelgeräten (Ich bin in der „Goldstadt“ Pforzheim aufgewachsen, ein befreundeter Fasser setze diese Steine ein). Offen zu meinen Hörhilfen stehen ist für mich schon immer selbstverständlich und hat mir viele Türen geöffnet (bzw. nicht verschlossen). Weder Vorgesetzte noch Kolleg*innen oder Kunden stellten meine Kompetenz in Frage – ich trage halt coole Hightech am Ohr!

In meiner Freizeit bin ich schon seit über 12 Jahren in der CI-Selbsthilfe ehrenamtlich engagiert. Und nun freue ich mich, dass ich diese Begeisterung auch in meinem neuen Berufsfeld einbringen darf, als Geschäftsführerin der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft e.V. (DCIG).

Das Foto zeigt mich mit meinem Vater, dem ich sehr viel verdanke. Er hat mich mein ganzes Leben begleitet und mich immer auf meinem Hörweg unterstützt – so, wie ich es in dem jeweiligen Moment brauchte. (Dass ich ein Papa-Kind bin, sieht man auf dem Foto, oder?)

Ulrike Berger
September 2022