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Vom Leben mit einer seltenen Erkrankung

„Ist ja nur einer der fünf Sinne und noch etwas mehr“

von Judith

Es gibt heute viele Menschen mit einer Hörschädigung. Manche haben eine leichte Schwerhörigkeit, andere hören fast gar nichts mehr bis hin zum kompletten Verlust der Hörfähigkeit.

Mit acht Jahren wurde ich als schwerhörig diagnostiziert. Ich bekam Hörgeräte auf beiden Seiten. Aber wie sollte nun eine an sich guthörende Familie damit umgehen? Meine Eltern kämpften dafür, dass ich Unterstützung bekam. Und so begleitete mich eine – mir immer noch am Herzen liegende – Sonderpädagogin immer mal wieder in meiner Schulzeit.

Der PTA Verlauf (Pure Ton Average) zeigte von Anfang an, dass ich eine eher untypische Hörkurve aufweise. Während viele entweder einen Hochtonabfall oder einen Tieftonabfall haben, habe ich im hohen und tiefen Bereich eher die guten Werte, aber eine Senke im Mitteltonbereich. Dieser Mitteltonbereich betrifft besonders die Sprache beim Hören.

Woher kam diese Schwerhörigkeit?

Nun man schickte mich zum IQ-Test und zur genetischen Untersuchung, da es keine Erklärung gab, woher diese Schwerhörigkeit kam. Dann fiel auf, dass ich ein sehr zartes Handgelenk hatte. Ein Röntgen zeigte dies noch deutlicher, aber gab auch keinen Aufschluss über die Ursache. Die damalige humangenetische Untersuchung führte zu keinem Ergebnis.

Ich kam ins Jugendalter und mein Körper zeigte im Gegensatz zu anderen Jugendlichen einen veränderten Entwicklungsverlauf. Zwar wuchs ich auf die Körpergröße bezogen normal. Aber meine Hände und Füße blieben etwas kleiner, meine Arme und Beine waren deutlich zarter gebaut. Und wenn man sich heute mein Babyfoto ansieht, auf dem ich ein süßes Moppelchen war, schaut man verwundert drein, wie eher zart ich heute gebaut bin und wie schmal meine Nase sich entwickelt hat.

Mein Brustkorb entwickelte sich normal. Die Brust selbst hingegen blieb klein, machte nur wenig Entwicklung im Jugendalter durch. Immer bestand die Hoffnung: Bis 20 kann sie ja noch wachsen. Doch es passierte nicht.

Motorische Einschränkungen hatte ich kaum. Ich spielte trotz der mittlerweile bekannten fortschreitenden Schwerhörigkeit Geige, war gern draußen und besonders gut im Völkerball. Und meine Knochen waren auch nicht brüchiger als normal. Ich brach mir nur einmal aus natürlichen Gründen den Arm in der Nähe des Handgelenks und es verheilte auch normal. Aber blaue Flecken und Prellungen kamen durch den zarten Körperbau schneller zustande.

Mit 14 erlebte ich dann einen stärkeren Abfall im Hören. Erst mit 18 stagnierte der progrediente (fortschreitende) Verlauf meiner Schwerhörigkeit wieder. Ich war an einer hochgradigen Schwerhörigkeit angelangt, die sich bis heute zieht, aber nahezu stabil die letzten drei Jahre geblieben ist. Die Hörkurven auf dem Bild stellen den Hörverlust ohne Hörgerät und mit Hörgeräteversorgung dar.

Dann fing es während meines Abiturs an, dass mich Leute darauf ansprachen, dass ich immer so rote Augen hätte, ob ich eine Bindehautentzündung hätte. Ich beschloss zum Augenarzt zu gehen. Tatsächlich hatte ich eine Entzündung, die auch zunahm. Ich bekam Antibiotikumsaugentropfen, die nicht halfen. Drei verschiedene Tropfen brachten kein ausreichendes Ergebnis. Schließlich bekam ich Cortison und innerhalb weniger Wochen wurde es deutlich besser. In der Augenklinik konnten sie feststellen, dass die Ursache inaktive oder nichtvorhandene Meibomdrüsen im Auge waren. Man schickte mich in die Hautklinik, um zusätzliche Allergien und einen weiteren Verdacht auszuschließen. Zu den Augen war dann bald klar, es ist das Sicca-Syndrom entstanden und ich bekam Augentropfen, die mir bis heute täglich helfen.

Nun in der Hautklinik fiel dann die starke Hornhaut unter den Füßen auf, die Probleme mit trockener Haut und ein Vitamin-D Mangel kamen hinzu. Man empfahl mir erneut die Humangenetik zu versuchen, da ich so viele Symptome hatte und eine ungeklärte progrediente Schwerhörigkeit.

Und so begann das Prozedere zehn Jahre nach dem ersten Versuch erneut. Man machte mir deutlich, dass man nicht sicher sei, ob man etwas finden würde. Es war klar, dass ich ein spezieller Fall war. Aber die Methoden der Genetik haben sich natürlich in den zehn Jahren auch verbessert und entwickelt. Es dauerte nur ein halbes Jahr, dann bekam ich Antwort…

Ich war tatsächlich ein besonderer Fall, denn man hatte herausgefunden, dass ich ein seltenes Progerie Syndrom habe.

Eine Spontanmutation (das bedeutet, dass die Mutation bei mir aufgetreten ist, aber meine Eltern laut den Vergleichsdaten nicht davon betroffen sind) liegt bei mir vor. Man nennt sie POLD1-Genmutation, die eine Kreuzung mit dem Werner Syndrom hervorruft und damit viele Risiken umfasst. Dieser nicht sehr häufig auftretende Fall bedeutet auch, dass es zu dem weiteren Verlauf meines Lebens nur wenig Erkenntnisse gibt. Das Progerie Zentrum in Göttingen (das einzige deutschlandweit dieser Art) bemüht sich mehr Klarheit über progeroide Syndrome zu ermitteln. Man weiß, dass bei mir bereits einige für meine Genmutation bekannte Symptome und Erkrankungen zutreffen. Andere sind bisher nur Risiko, können irgendwann erst zutreffen, aber müssen nicht unbedingt eintreten.

Am einfachsten ist es anhand der Buchstaben zu erklären.

P = Progerie → Hiermit geht eine frühzeitige Alterung einher (das erklärt vielleicht die inaktiven Meibomdrüsen des Auges und die trockene Haut).

O = Osteoporose → Diese Erkrankung, in welcher eine geringere Knochendichte auftritt und somit eine Knochenbrüchigkeit Gefahr läuft einzutreten, hat natürlich auch mit der frühzeitigen Alterung zu tun, trifft aber bisher auf mich noch nicht zu.

L = Lipodystrophie → Mein zarter Körperbau (Arme/Beine schmal, unterentwickelte Brust, kleine Hände und Füße, schmale Nase, verkürztes Kinn) ist hierauf zurückzuführen. Dies ist eine Form der Fettverteilungsstörung, die bei mir begrenzt auf einige Körperteile bezogen zutrifft. Ich kann also essen wie ich will, mein Gewicht bleibt aufgrund dieses zarten Körperbaus von nun an als erwachsene Frau auf einem ähnlichen für meine Größe leichten Gewicht, egal wie viel ich esse. (Natürlich ist eine ausgewogene Ernährung dennoch wichtig.)

D = Deafness → Ich bin zwar noch nicht ertaubt, aber ich habe eine fortschreitende hochgradige Schwerhörigkeit, die mittlerweile cochleär ist. Mit Hörgeräten komme ich derzeit noch aus. Irgendwann wird sicherlich dennoch auf beiden Seiten ein Cochlea Implantat notwendig werden, wenn ich nicht mehr ausreichend mit Hörgeräten versorgt werden kann. Das kann schon in ein bis zwei Jahren sein oder aber noch zehn Jahre dauern, weil ja auch die Hörgerätetechnik immer besser wird und unklar ist, ob mein Hörverlust stabil bleibt oder sich die nächste Zeit deutlich verschlechtert. Man weiß nur, dass sich mein Hören mit der Zeit verschlechtern wird.

Aufgrund der frühzeitigen Alterung und der Kreuzung mit dem Werner Syndrom, gibt es viele Risiken, die derzeit beachtet werden müssen, da einige davon auch bei der POLD1-Genmutation auftreten können. So habe ich ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Gefäßerkrankungen wie beispielsweise Arteriosklerose, darüber hinaus auch ein erhöhtes Risiko für Diabetes.

Was macht das mit mir?

Ich bin froh zu wissen, woher meine Symptome kommen. Die vorherige Ungewissheit, woher die Auffälligkeiten kamen, war schlimm. Schlimmer als jetzt das Wissen über die Risiken, die in Zukunft zu Erkrankungen werden können. Ich kann mich mit Vorsorgeuntersuchungen darauf einstellen, dass wenn weitere Erkrankungen vorliegen, diese rasch erkannt werden. Die Chance mit einer frühzeitigen Behandlung diese gering zu halten, ermöglicht mir mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit zu handeln, wenn es notwendig ist.

Natürlich bedeuten viele Untersuchungen auch mehr Termine auf dem Plan und somit Stress. Die Hörschädigung führt zu erhöhter Ermüdbarkeit und die Hör- und Kommunikationsbarrieren zu weiterem Stress.

Ich mache mir Gedanken über die Zukunft, habe sicherlich auch in mancherlei Hinsicht Angst und empfinde öfters Hilflosigkeit.

Aber ich weiß, dass es Dinge gibt, die ich beeinflussen kann. Lösungen, die ich finden und umsetzen kann. Ich bin immer eine Kämpferin gewesen und werde weiter dafür kämpfen, mein Leben von nun an so zu gestalten, wie es mir möglich ist. Es ist mein Leben und auch wenn die Gesellschaft im fast living Modus ist, musste ich in letzter Zeit und muss ich auch in der Zukunft lernen schrittweise vorzugehen und mir mein Leben im slow living Modus aufzubauen. Denn eine chronische Überlastung bedeutet Folgen für den Körper und kann die Risiken begünstigen. Ich fange an, anders auf meinen Körper und mich zu achten.

Ein Schritt zu mehr Selbstbewusstsein gab mir mein Hobby LARP (Live Action Role Play). Als Bogenschützin fand ich einen Weg, um meine körperlichen Stärken einzusetzen und in meinem Charakter aufzuleben. Man begegnet Leuten verschiedensten Alters, die zusammenhalten. Menschen, denen es egal ist, wie alt du bist oder ob du eine Behinderung hast. Ja sogar Gebärdensprache findet vielleicht bald Anwendung in einzelnen Bereichen, um ohne lautem Rumschreien Befehle zu erhalten im Feldzug. Es ist faszinierend, was man über sich selbst lernt in diesem Hobby. Irgendwo beinhaltet der Charakter immer Teile von einen Selbst. Dinge können ausgelebt werden, die man sonst vielleicht zurückhält. Und über eine kreative Weise wird soziale und emotionale Entwicklung erfahren.

An die Leute da draußen, die auch eine chronische Erkrankung oder Behinderung haben, die trotz gesundheitlicher Einschränkungen so stark sind und weiter machen: Ich bewundere euch.

An alle die verzweifelt sind: Gebt nicht auf! Kämpft für euer Leben. Kämpft dafür, es so gestalten zu dürfen, wie ihr leben wollt.

Es gibt gute und es gibt schlechte Tage. Es ist erlaubt, sich schlecht zu fühlen. Es ist erlaubt zu weinen oder sich zu verkrampfen. Es ist erlaubt mal nicht für andere da zu sein. Denn an erster Stelle kommt man selbst, um der Gesundheit Willen.



Und daher halte ich an meinem Lebensmotto aus „Der Herr der Ringe“ fest:

 

„How could the world go back to the way it was when so much bad had happened? But in the end, it’s only a passing thing, this shadow. Even darkness must pass. A new day will come, and when the sun shines, it’ll shine out the clearer.” (J.R.R Tolkien)

 

Deutsche Übersetzung:

„Wie könnte die Welt wieder so wie vorher werden, wenn so viel Schlimmes passiert ist? Aber letzten Endes geht auch er vorüber, dieser Schatten. Selbst die Dunkelheit muss weichen. Ein neuer Tag wird kommen und wenn die Sonne scheint, wird sie umso heller scheinen.“

Bei Interesse ist ein Kontakt zu Judith möglich, insbesondere für andere Menschen mit dieser seltenen Erkrankung. Email an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

  • Die Rechte zu den Bildern/Fotos liegen bei Judith. Diese sind eigens von ihr entwickelt und aufgenommen worden.