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Die Reanimation des totgeglaubten Gehörnervs

Von Annelies Bauer alias Seilenna

Du sitzt vor einem Klavier, tastest von links nach rechts einzeln die Töne durch. Beginnend bei den tiefen, endend bei den hohen Tasten, ja, jede Taste hat eine Aufgabe. Jeder, der es als Kind mal probieren durfte, hat meist rüpelhaft in die Tasten gehauen. Ein erfahrener Klavierspieler aber nimmt sie zusammen zu einem Stück und eine feine Melodie erklingt. Du hast bestimmt gerade eine in den Ohren. Herrlich. Jetzt stell dir vor, von rechts nach links, fehlen die hohen Tasten am Klavier, nur ein paar wenige bleiben bestehen, bevor die tiefen Tasten wieder beginnen. Nur die tiefen Tasten ergeben jetzt das Stück. Der Klavierspieler wird in Gedanken vertrieben, bitte was soll das, absolut unharmonisch. Ständig fehlt ein Ton, es geht einfach nicht. Das Klavier ist KAPUTT. Oder?

Genauso verhält es sich mit unserer Stimme, in den verschiedenen Stimmen liegen Frequenzen, fehlt dann die Wahrnehmung der hohen Töne im eigenen Gehör, ist ein Gespräch auf normalen Weg nicht mehr möglich, da fehlt dann einfach was. Man hört die tiefen Töne gut, alles andere bleibt verschwunden. Sowie bei mir. Ein Hörgerät auf gewöhnlichem Wege konnte mir nicht mehr helfen.

Ich sitze in der HNO-Station meines Vertrauens, immer wieder geht die automatische Tür auf und zu, wenn jemand anderes in die Station gelangt. Es macht mich fertig. Meine Nerven flattern im Einklang mit der Tür.

Heute erhalte ich mein Außengerät, um, so sind meine Aussichten, wieder das Hören zu erlangen. Eine Operation an der Gehörschnecke ging voraus, dabei wurde mir ein Implantat eingesetzt, in Kombi kann es mich wieder hören lassen. Klingt unglaublich, ist es auch. Es wird bis zu einem Jahr dauern, bis ich Töne unterscheiden kann. Viel Hörtraining, damit mein Gehirn wieder filtern kann, was von außen, auf den totgeglaubten Gehörnerv einprasselt. Heut ist er da. DER Moment. Mein Fels in der Brandung ist bei mir. Meine geliebte Mama.

Jetzt ist es soweit, das Gerät wird mir vom Audiologen ins Detail erklärt, dann verbindet er es mit seinem Laptop. Das Programm erlaubt es ihm meine Tonwahrnehmung zu verändern. Wie der Musiker bei der Gitarre zur Saitenstimmung, kann er am Cochlea Implantat (CI) die Töne optimieren. Der Magnet findet sofort am implantierten Innenleben seinen Platz. Was ich höre ist eine Mischung, der Audiologe redet, ich kann ihn ja noch am linken, „guten“ Ohr hören, aber am rechten mischt nun wieder etwas mit. Ein Tonbrei. Wie die eine tiefe Star Wars Stimme, aber mit Mickey Mouse's Touch. Wörter verstand ich aber noch keine.

Spürte ich da nun Ernüchterung? Nein.

Denn nicht viele Wochen später fuhr ich mit dem Auto von der Arbeit heim. Tägliches Hörtraining stand seit der Anpassung am Programm, ich übte viel und mit vielen verschiedenen Personen. Es wird noch dauern bis zum erkennbaren Hörerfolg.

Auf den Verkehr achtend, lauschte ich nebenbei den Nachrichten. Oh wait?! Ich lauschte NEBENBEI den Nachrichten!! Was war da gerade passiert? An den Straßenrand. Den Motor absichtlich laufen gelassen, drückte ich mein ,,gutes" Ohr zu, um das elektrische zu prüfen. Ich hörte klare Silben trotz der Störgeräusche, verstand die Moderatorin sehr gut, auch ihre Stimme klang natürlich, mein Gehirn filterte wieder, mein inneres Ohrklavier spielte wieder Melodien!

Als hätte ich Gold gewonnen, wählte ich eine vertraute Nummer. „Mama, ich hab beim Fahren grad die Nachrichten verstanden."

Von Annelies Bauer alias Seilenna
April 2020