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Meine Erfahrungen mit der Frühanpassung

Erst seit kurzem wird in der Medizinischen Hochschule Hannover eine Frühanpassung des Cochlea-Implantats bzw. des Soundprozessors schon 2-3 Tage nach der Operation angebo-ten, wenn die operationsbedingte Schwellung bis dahin soweit zurückgegangen ist, dass die Spule am Kopf ausreichenden Kontakt zum darunter platzierten Implantat herstellen kann. Vorteil dieser Frühanpassung ist, dass man sich bis zur Erstanpassung, die ca. 3-4 Wochen nach der Operation stattfindet, bereits an die ersten Höreindrücke gewöhnt und damit besse-re Anpassungserfolge erzielen kann. Man kann sich das Ganze so vorstellen, als baut man ein Mischpult auf einem Konzert auf, setzt es auf die Werkseinstellungen, schließt alle Kabel an und testet, ob die Töne durchkommen. Das war es. Keine individuelle Einstellung, keine Aussteuerung der verschiedenen Instrumente, kein Soundmanagement. Dies wird erst in 3-4 Wochen bei der fünftägigen Erstanpassung durchgeführt.

Die Frühanpassung ist um 9 Uhr angesetzt. Meine ErstBesteHälfte (EBH) ist rechtzeitig vor Ort, um diesen Moment mit mir zusammen zu erleben. Ich bin aufgeregter, als es den An-schein hat. Und ich erwarte eigentlich gar nichts – außer Töne oder überhaupt irgendwelche Geräusche wahrzunehmen, die mir zeigen, dass das Implantat funktioniert. Aber dann kommt alles ganz anders.

Der Kontakt zum Implantat ist gut, nachdem der sympathische Audiologe einen stärkeren Magneten eingefügt hat. Noch befindet sich als Folge der Operation etwas Flüssigkeit zwischen Implantat und der darüber liegenden Haut, was aber kein Problem ist.

Als der Soundprozessor eingeschaltet wird, höre ich zuerst Pieptöne im Ohr und bin unendlich erleichtert, dass ich überhaupt etwas wahrnehme. Dann werden die verschiedenen Elektroden der Reihe nach getestet und ich höre bei jeder Elektrode den entsprechend höheren oder tieferen Ton – klar und deutlich. Es funktioniert! In diesem Moment kann ich mich nicht mehr beherrschen. Die ganze Angst und Aufregung der letzten Tage bricht aus mir heraus und meine EBH und ich liegen uns tränenüberströmt in den Armen. ES FUNKTIONIERT!

Ich schalte das Hörgerät auf der linken Seite aus. Der Audiologe spricht mit mir und ich höre seine Stimme – und ich höre auch, dass es eine menschliche Stimme ist. Es hört sich auf den ersten Eindruck an wie Micky Maus nach dem Einatmen von Heliumgas. Aber das ist mir in diesem Moment egal. Schon nach wenigen Minuten verstehe ich den Audiologen in Kombination mit Lippenablesen relativ gut. Seine Stimme ist sehr leise, kommt aber deutlich klarer an als mit dem Hörgerät. Und klingt von Minute zu Minute normaler. Ich bin restlos erleichtert und kann es mir nicht verkneifen ihm zu sagen, dass ich ihn feuern würde, wenn er ein Tontechniker in der Unterhaltungsindustrie wäre, weil der Sound wirklich miserabel ist, aber unter den gegebenen Umständen restlos glücklich bin. Er freut sich ebenso wie ich und meine EBH riesig über diesen völlig unerwarteten Erfolg.

Die Lautstärke wird noch etwas angepasst, das Zubehör grob erklärt, ein Termin für die Erstanpassung in der ersten Septemberwoche vereinbart und dann geht es mit dem Karton, in dem auch ein Macbook Platz finden würde, zum Med-El-Experten, um sich mit dem Equipment vertraut zu machen. Auch bei diesem Termin lasse ich das Hörgerät aus und kann dem Gespräch gut folgen. Ich habe das erste Ziel, das ich mir bis zum Jahresende gesetzt habe, in einer Stunde erreicht und kann es kaum glauben.

Die Grundausstattung ist bei Med-El sehr umfangreich – ich weiß allerdings nicht, wie es bei den anderen Herstellern aussieht. Ich bekomme erst einmal die Version mit Batterien; der Antrag auf den Wechsel auf Akkus wird direkt ausgefüllt und weitergeleitet. Die Krankenkasse übernimmt entweder die Kosten für die Batterien, die dann regelmäßig zugeschickt werden, oder aber für eine Auswahl von Akkus samt Ladestation, die alle 16 Monate erneuert werden. Es gibt bei Med-El große Akkus mit ca. 10 Stunden Laufzeit und kleinere mit etwa der Hälfte, die den Soundprozessor sehr klein machen. Ich entscheide mich für eine Kombination mit zwei kleinen und zwei größeren Akkus. Ebenfalls gleich beantragt wird die Teleschlinge, mit der ich eine drahtlose Übertragung zum Handy initiieren kann, wenn ich sie um den Hals trage. Im Set enthalten ist eine Batteriefachabdeckung mit Klinkenstecker, die ich wie einen Kopfhörer nutzen kann. Dazu gibt es eine Alternativspule mit Lock-Option, damit das Kabel nicht abgehen kann, ausreichend Batterien für die ersten Tage, eine Trockenbox, schön designte Taschen für Soundprozessor samt Zubehör, einen Tester, mit dem man die Funktionsfähigkeit des Soundprozessors und der Spule überprüfen kann, ein Wasserschutz-Set, mit dem man mit Soundprozessor ins Wasser kann, jede Menge Anleitungen, Tipps und die Implantat-ID-Card, die ich immer mit mir führen muss. Die Beratung ist auch hier ausgezeichnet und ich bekomme alles ausführlich erklärt. Und verstehe es. Ohne Hörgerät. Mit Implantat. Und es hört sich gut an.

Dann geht es zurück zur Station. Auf dem Weg dahin fällt meiner EBH auf, dass der Tränensack unter meinem rechten Auge deutlich sichtbar geschwollen ist. Das stellt sich später auf der Station aber als unproblematisch heraus – der Kopf muss erst einmal wieder in Form kommen und die Flüssigkeit, die als Schwellung sichtbar ist, wird verschwinden.

Der erste Höreindruck draußen ist gut – alles ist gut gedämpft und ich fühle mich nicht hörüberfordert. Auf dem Zimmer wird dann das Zubehör noch einmal intensiv in Augenschein genommen, Registrierungskarten werden ausgefüllt, eine Einkaufsliste für Zubehör erstellt, das ich beruflich nutzen möchte – und ich unterhalte mich mit meiner EBH, deren Stimme mittlerweile auch immer natürlicher klingt und wir liegen uns wieder tränenüberströmt in den Armen. Dann brauche ich Schlaf.

Als ich später am Abend wieder aufwache, verbinde ich mein Handy per Klinkenstecker mit dem Soundprozessor und starte eine Hörtraining-App, die ich im Google Play Store heruntergeladen habe. Die Ergebnisse sind auf Anhieb deutlich besser als mit Hörgeräten – bei Uhrzeiten verstehe ich 80%, bei Einsilbern nach kurzem Üben 100%. Allerdings werden immer vier mögliche Lösungen gezeigt, so dass man recht gut „hörkombinieren“ kann. Dennoch ist das Implantat dem Hörgerät weitaus überlegen.

Ich schaue Tagessschau auf dem Handy. Ohne Untertitel. Und ich verstehe jedes Wort des Nachrichtensprechers. Bei überlagerten Stimmen (Englisch im Hintergrund, deutsche Übersetzung im Vordergrund) bin ich überfordert, aber den Sprecher verstehe ich klar und deutlich – und das auf einem kleinen Display mit kaum erkennbarem Mundbild.

Dann schmeiße ich Spotify an. Die Empfehlung von Med-El war, mit langsamen Musikstücken zu beginnen, die man gut kennt und die nicht zu viele Instrumente verwenden. Ich starte „Lullaby“ von The Cure und kann es nicht fassen – es hört sich auf Anhieb so viel besser an als mit Hörgeräten! Ich höre zwar kaum Bass, aber alles andere ist schon nach ein paar Takten klarer und deutlicher als ich es jemals in Erinnerung hatte. Die Tränen laufen wieder.

„A Forest“. „Don’t you forget about me“. „Blue Monday“. Anfangs klingt alles wie von Micky Maus gesungen, aber spätestens beim dritten Anhören fühlen sich die Stimmen so an, wie ich sie in Erinnerung hatte. „The Promise you made“ – ich höre beide Stimmen des Sängers und der Sängerin und kann sie klar voneinander unterscheiden. Ebenso bei „Hate is a 4 letter word“. Unfassbar. Ich versuche etwas schnellere und härtere Musik. „Are you gonna go my way“. Ich höre jeden Drumschlag. „Smells like teen spirit“. Einfach nur WOW. Ich höre mir eine Videoaufnahme von Junior I an, der in einer Schulband E-Gitarre spielt und höre erstmals, um welchen Song es sich handelt. Und wie toll es klingt. Bis nachts um drei sitze ich im Aufenthaltsraum der Station und höre alles, was ich von früher kenne und mag und will gar nicht mehr aufhören. Eine Gänsehaut jagt die nächste.

Ich habe niemals erwartet, dass ich jemals wieder so gut Musik hören kann. Mir war Musik immer sehr wichtig; ich stamme aus einer sehr musikalischen Familie mütterlicherseits und lernte schon als Kind klassische Musik lieben. Ich lernte früh Klavier spielen und zeigte ein großes Talent, dann kam Posaune im Kirchenblasorchester hinzu, auf der ich später mit Freunden Big Band Jazz und auch Pop spielte. Ab meinem ca. 17. Lebensjahr hörte ich mit dem aktiven Musikmachen auf, weil ich die Töne nicht mehr wirklich unterscheiden konnte und es einfach keinen Spaß macht, wenn man kein direktes Feedback mehr wahrnimmt. Wenn man nicht hört, wenn und was man falsch spielt. Ich bin noch auf Konzerte gegangen, weil ich die Atmosphäre mag und über den Bassrhythmus zumindest bekannte Songs erkennen kann. Die Frustration war dennoch oft hoch, weil das Klangerlebnis bescheiden war.

Zwischendurch schickt mir meine Familie Sprachnachrichten über What’s App. Das „Gute Nacht, Papa!“ von Junior II verstehe ich deutlich und auch bei den anderen zwei Nachrichten verstehe ich einzelne Wörter, wenn auch noch nicht die gesamte Nachricht.

Was für ein Tag. Selbst wenn sich das Hören bei der Erstanpassung im September nicht mehr verbessern wird, was unwahrscheinlich ist: Ich würde es sofort wieder machen. Das ist mehr, als ich im Traum erwartet habe. Ich gehe ins Bett und hoffe, dass das Ganze nicht nur ein verrückter Traum ist.

Von Chris Lilienweihs
August 2018

Chris kompletten Blog findet Ihr unter http://implantastisch.de/